Buchauszug: „Made in Germany“ von Massimo Bognanni und Sven Prange

Buchauszug aus „Made in Germany“ von den Journalisten Massimo Bognanni („Handelsblatt“) und Sven Prange („WirtschaftsWoche“): „Made in Germany – Große Momente der deutschen Wirtschaftsgeschichte“. 20 Reportagen deutscher Wirtschaftsgeschichte.

Hier im Buchauszug: Martin Herrenknecht, Gründer des gleichnamigen Tiefbauunternehmens im schwäbischen Schwanau 

 

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„Made in Germany – Große Momente der deutschen Wirtschaftsgeschichte“ von Massimo Bognanni/Sven Prange, Campus Verlag 2016, 224 Seiten, 19,59 Euro http://www.campus.de/buecher-campus-verlag/gesellschaft-wirtschaft/wirtschaft/made_in_germany-10409.html

 

1977

Martin Herrenknecht – Weltmarktführer aus der Provinz

1973 Die erste Ölpreiskrise beendet die Boomphase der westdeutschen und westeuropäischen Nachkriegswirtschaft.

1973 Die 1961 aufgenommene gezielte Anwerbung ausländischer Gastarbeiter für die westdeutsche Industrie, mit der der Ausländeranteil an der Beschäftigtenzahl auf 11,9 Prozent angestiegen war (darunter die Türken als größte nationale Gruppe mit mehr als 600 000 Personen), läuft aus.

1975 Mit der Schlussakte der »Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa«, die die Wahrung von Menschen- und Grundrechten vorsieht, setzt die innere Erosion der sozialistischen Gesellschaften und Herrschaftssysteme in den Warschauer Pakt-Staaten ein.

 

»German Mittelstand«

Ende der 1970er Jahre ist der Mittelstand in Deutschland noch sehr provinziell. Erst langsam beginnt die  Globalisierung dieser einmaligen deutschen Unternehmen. Ein Mythos entsteht. Das hat mit einem Mann zu tun, der sich mit Durchbrüchen auskennt. Hier ist seine Geschichte.

 

Luxemburg ist nicht die Welt, aber immerhin ein Anfang, als sie an diesem Tag im Jahr 1977 ein Geschäft besiegeln. Man werde, einigen sich die Parteien, bezüglich dreier Maschinen Geschäfte miteinander tätigen: ein Bunkerband werde an die GKN Keller in Offenbach zu liefern sein, Kostenpunkt 20 000 D-Mark; ebenso eine MH-3-Tiefbohrmaschine zu 110 000 D-Mark und eine etwas günstigere MH-2.

Martin Herrenknecht ist sehr zufrieden an diesem Tag. Man kann wahrlich nicht behaupten, dass die vergangenen Jahre besonders reibungslos gewesen wären. Der Vertrag mit der Tiefbaufirma aus Offenbach aber könnte, da ist sich Herrenknecht nun sicher, sein endgültiger Durchbruch werden. Denn es geht darum, dass er, der junge Unternehmer, seine Erfindung endlich auch im Ausland vorstellen darf. Die GKN Keller möchte seine MH-3 in Luxemburg einsetzen, um Röhren für einen Abwasserkanal zu ziehen. Gut, es ist »nur« Luxemburg. Aber nach Luxemburg könnte ja vielleicht die Schweiz kommen, dann Frankreich, dann die Welt. Die Hoffnung spricht an diesem Tag noch im Konjunktiv.Aber wer weiß …

Herrenknecht hat diesen Durchbruch kaum erwarten können. Die mittelständischen Unternehmer in seiner Nachbarschaft, und davon gibt es zwischen Baden und Schwaben durchaus den ein oder anderen, sind zwar kauzige Zeitgenossen, die am liebsten in Ruhe vor sich hin ihre Geschäfte machen, wenig von der Welt gesehen haben und wenig von der Welt erwarten. Herrenknecht aber will mit seiner Erfindung, den einmaligen Tiefbohrmaschinen, rasch in die Welt. Er weiß: Der deutsche Markt wird für derlei Spezialgerät nicht lange groß genug sein. Also will er, muss er raus und über die Landesgrenzen hinaus.

Es ist eine sehr einfache, aber auch sehr weise Alltagsbeobachtung, die seine Strategie prägt: »Wo der Zirkus gut läuft, musst du dein Zelt aufstellen. Wenn er dann aber irgendwann schlechter läuft, muss du es auch wieder abbauen. « Nur, damit der Zirkus läuft, müssen die Menschen zumindest mal einen Blick auf die wilden Tiere oder Clowns erhascht haben können. Übersetzt in Herrenknechts Situation: Du darfst nicht nur sicher sein, über die beste Erfindung zu verfügen, du musst deinen Kunden auch erste erfolgreiche Referenzen zeigen können. »Sonst sagen die Leute: ›Wir sind keine Versuchskaninchen, wir wollen zunächst woanders sehen, dass die Technik funktioniert‹«, beobachtet Herrenknecht.

Autor Massimo Bognanni vom "Handelsblatt"

Autor Massimo Bognanni vom „Handelsblatt“

Zur Not durch Stock und Stein

So sind die vergangenen zwei Jahre schon ins Land gegangen. Seit 1975 tingelt Herrenknecht mit seiner Idee, seinen Konstruktionsplänen und seinen Argumenten durch die Lande. »Ja, interessant«, hört der Mittdreißiger überall. Aber ob das funktioniere? Na ja.

Herrenknecht ist sich seiner Sache jedoch sicher: Er hat nicht umsonst zehn Jahre zuvor seinen Diplom-Ingenieur an der Fachhochschule Konstanz gemacht, in kanadischen und Schweizer Firmen Erfahrungen gesammelt und beim US-Konzern John Deere riesige Landmaschinen konstruiert. Er weiß, wie das Geschäft läuft, und sieht in der Welt den Willen der Menschen, zusammenzuwachsen, einander schneller zu erreichen. Dafür aber braucht es Tunnel, schnelle Verkehrsverbindungen, zur Not durch Stock und Stein.

Er hat zwischen 1971 und 1975 den maschinentechnischen Dienst auf der Baustelle des Schweizer Seelisberg-Tunnels geleitet, eines der größten transalpinen Verkehrsprojekte dieser Zeit. Er hat gesehen, wie mühsam sich die Arbeiter durch den Berg sprengen mussten, und entwickelt langsam eine Idee, wie das einfacher werden könnte: Wie der Bohrer durch die Wand könnte der Bohrer doch auch durchs Erdreich gleiten. In Nordamerika hat Herrenknecht gesehen: Genauso wichtig wie eine Idee ist der Mut, sie auch durchzusetzen. In der Schweiz hat er gelernt: Neben Mut schaden auch Gründlichkeit und Augenmaß nicht auf dem Weg zum Erfolg. 1975 lässt Herrenknecht sein selbstständiges Ingenieurbüro eintragen. 25 000 D-Mark leiht er sich von seiner Mutter, um die Gründung zu finanzieren. Und er findet an der heimischen Fachhochschule in Offenburg Ingenieure als Mitarbeiter. Er setzt auf sein soziales Kapital. Zumindest in Sachen Mitstreitern hilft ihm das zunächst. Es fehlt eben nur besagter erster Kunde.

Herrenknecht fängt klein an: Kleinere Bohrer als solche, die eigentlich technisch möglich sein müssten, bietet er an. Einsatzmöglichkeiten: Kanalbaustellen, Leitungen, so was eben. Ein Jahr vergeht, bis der erste Kunde einschlägt. Und doch reicht Herrenknecht das nicht zur Rast. Er hat am Seelisberg erlebt, welche konstruktive Kraft entsteht, wenn Fachleute und Techniker aus vielen verschiedenen Nationen zusammenarbeiten; bei John Deere hat er erlebt, wie angelsächsische Konzerne keine Scheu haben, auch auf ausländischen Märkten zu wachsen. Es beginnt, was die Ökonomen seit einiger Zeit Globalisierung nennen: die Perfektionierung von Adam Smiths altem Theorem der internationalen Arbeitsteilung, die die Segnungen des Kapitalismus erst so richtig über den Menschen verteilt. Das aber heißt auch: Nur in Deutschland kann kein Unternehmen auf Dauer die Schlagkraft halten, dabei mitzumischen.

Autor Sven Prange von der "WirtschaftsWoche"

Autor Sven Prange von der „WirtschaftsWoche“

Allein unter Eigenbrötlern

Es fehlen jedoch Vorbilder: Es gibt im Südwesten der Republik den Würth, klar, den Dübel-Fischer oder auch den Leibinger. Vor allem aber gibt es viele namenlose Mittelständler, denen es reicht, vor sich hinzuwerkeln. Die in der Nachkriegs-Wirtschaftswunderzeit gute Geschäfte machten, sich freuten, als Europa über die Gemeinschaft für Kohle

und Stahl (EGKS) zusammenwuchs, deren Horizont aber dennoch in aller Regel an den Landesgrenzen endet. »Was macht der da?«, staunen viele mittelständische Kollegen, als Herrenknecht im Ausland akquiriert. Luxemburg, vielleicht noch die Schweiz, das können sie vielleicht noch verstehen. Aber Herrenknecht schielt auch in Richtung Großbritannien, Frankreich, ja sogar in Richtung Irak. »Wie ein Exot«, gesteht er, fühle er sich unter all diesen Kollegen.

Klar, Vater Herrenknecht war schon ein weltoffener Typ. Er führte zwar seine eigene Polsterei, schickte aber den Junior eben in die Welt, auf dass sie ihn präge. Deswegen ist es Herrenknecht so wichtig, als er die erste MH-3 nach Luxemburg liefert. 1,20 Meter Durchmesser hat der Bohrer. Ein Vorzeigeprojekt deutscher Ingenieurskunst ist sie, als die Maschine in Luxemburg zusammengebaut ist und zum Einsatz bereitsteht.

Sie röhrt los und stockt dann doch: Statt – wie nach den Bodenproben erwartet – Lehm finden die Arbeiter felsigen Grund an der Einsatzstelle. Ein Findling, zwei Kubikmeter groß, versperrt den Weg. Herrenknecht und sein Team aber sind vor Ort, um die Luxemburger zu unterstützen. Zum Glück, wie sich herausstellt. Der Findling wird brachial zerkleinert, der Bohrer beißt sich schließlich durch. Dies in gleich doppelter Hinsicht: Nach der gelungenen Generalprobe in Luxemburg kommt das Geschäft in Gang. Von Beginn an gelingt Herrenknecht, was kaum einem Mittelständler gelingt: Das Auslandsgeschäft ist wichtiger als das Inlandsgeschäft. Die Aufträge folgen im Stakkato, denn die Fietz & Leuthold AG aus dem Schweizer Wallisellen kauft als erster ausländischer Kunde 1978 zwei weitere Maschinen aus der MH-Serie.

Herrenknecht stellt weiter Leute ein. Besonders gerne nimmt er Absolventen der Fachhochschule Offenburg: Die sind nicht nur technisch fit, sondern im Dreiländereck Schweiz–Frankreich–Deutschland auch internationaler geprägt als Absolventen in weiten Teilen Deutschlands. Und sie können endlich verwirklichen, wovon Herrenknecht von Beginn an träumt: richtig große Tunnelbohrer. Die nordfranzösische Stadt Lille bestellt den ersten Anfang der 1980er Jahre – sie will damit eine U-Bahn bauen. 1982 schickt Herrenknecht seine Leute dann in den Irak. Und plötzlich stehen nicht nur die Nachbarländer, sondern die ganze Welt offen.

1985 wickelt die Firma in Thailand ihr erstes Auslandsprojekt komplett in Eigenregie ab. 1988 gründet die Firma, mittlerweile zu einem stattlichen Unternehmen angewachsen, die erste Auslandstochter in Großbritannien. Herrenknecht schielt da schon gen Osten, in jenes Riesenreich, das sich langsam zu wandeln beginnt: China.

Der Zirkus ist da jetzt gefragt, also baut Herrenknecht sein Zelt dort auf – zunächst, indem er ab 1990 Symposien über die Vorteile der Tiefbohrmaschine an sich hält. Und so seine eigene Biografie wiederholt. Wie schon 13 Jahre zuvor gilt: Wer etwas werden will, braucht Geduld. Vier Jahre wirbt und erklärt Herrenknecht in China, bis es den ersten Auftrag gibt. Schanghai will einen 840 Meter langen Abwasserkanal bauen. Herrenknecht bohrt die zwei Röhren.

Der Mittelständler aus dem Schwarzwald ist nun mitten in der Welt. »Made in Germany« wird zum Markenzeichen, der deutsche Mittelstand zum Mythos. Und Herrenknecht? Dessen Eroberungsdrang ist so groß wie eh und je, er träumt von Projekten in Südamerika oder Iran und verzweifelt an seinen Landsleuten. Die, das ist seine große Angst, seien zu wenig technikfreundlich, zu wenig begeistert von großen Bauprojekten. »Ein Chinese hat mir gesagt: ›Wenn du ein lebendes Museum sehen willst, fahr nach Deutschland.‹«

 

Was daraus wurde

Firmen wie Herrenknecht wurden in den vergangenen Jahren als »German Mittelstand« bekannt und berühmt. Die Nischen-Weltmarktführer, Familienunternehmen und Innovationsführer sind zum Aushängeschild der deutschen Wirtschaft geworden. Mehr als 99 Prozent aller deutschen Unternehmen gehören zum »German Mittelstand«. Er steuert fast 55 Prozent zur gesamten Wirtschaftsleistung des Landes bei und erwirtschaftet beinahe 36 Prozent des gesamten Umsatzes deutscher Unternehmen, 2011 waren das rund 2,1 Billionen Euro. Diese Unternehmen stellen knapp 60 Prozent aller sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten in Deutschland.

 

Lesetipp: Hermann Simon, „Hidden Champions des 21. Jahrhunderts: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer“, Frankfurt am Main/New York 2007.

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