2. Teil: Aus Benno Heussens „Interessante Zeiten – Reportagen aus der Innenwelt des Rechts“ (Boorberg Verlag, Stuttgart 2013)
Rechtsanwälte in Europa
Durch die Kooperation mit vielen anderen Anwälten in Europa haben wir schnell gesehen, dass Rechtssysteme, die sehr nah miteinander verwandt sind, ganz unterschiedlich funktionieren. Erst so ist mir klar geworden, dass auch im weltweiten Maßstab in Deutschland, Österreich und der Schweiz am schnellsten und in Deutschland jedenfalls am kostengünstigsten prozessiert werden kann. In einem Fall hatte einer unserer Mandanten ein Hotel in Kopenhagen gekauft und den Kaufvertrag später angefochten. Wir klagten sicherheitshalber in Kopenhagen, weil wir glaubten, damit dem Problem der Zuständigkeit ausweichen zu können. Diese Strategie ging auf, aber das dänische Gericht brauchte zwei Jahre für eine Entscheidung von drei Zeilen! Offenbar gibt es dort keine wissenschaftlichen Einrichtungen wie die Max-Planck-Institute, die solche Fragen in drei Monaten beantworten können.
Ein italienischer Anwalt aus Südtirol sagte mir einmal: »Was man südlich von Rom nicht per Einstweiliger Verfügung bekommt, bekommt man gar nicht!« Die durchschnittlichen Prozesszeiten in Italien, die in jeder Instanz 3–6 Jahre betragen, lassen nicht erkennen, dass einige Verfahren ohne weiteres 10–15 Jahre dauern können.
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Neapel
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Vor allem im Strafrecht zeigen sich die erstaunlichsten Unterschiede. »Laura ist verhaftet worden. In Neapel.« Ich erkannte kaum die Stimme eines alten Freundes aus Berlin, denn es war 4 Uhr morgens. Laura war seine Tochter, 20. Sie studierte »irgendwas mit Medien« in Berlin, lebte in einer Wohngemeinschaft, und vor wenigen Tagen war sie mit einem Typen, den der Vater natürlich nicht kannte, zu einem Kurzurlaub nach Italien gefahren. Das hatten die Mitbewohner erzählt, die Eltern sah sie nur zu den üblichen Festtagen. Am späten Nachmittag dann der Anruf aus dem Konsulat in Neapel. Ich war erst nachts nachhause gekommen und der Vater hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Meine war jetzt auch zu Ende.
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Die italienische Drogenfahndung hatte die beiden nachts im Hotel verhaftet, das Auto auseinander genommen und 10 kg Hasch unterschiedlicher Qualität, Tabletten und ein paar Designerdrogen entdeckt. Bei so einer Menge hatte sie viele Jahre Haft zu erwarten. Ich kannte sie schon als Kind und mir wurde ziemlich flau. Dem Konsulat hatte sie gesagt, sie habe von nichts gewusst, ihr Freund auch nicht. Aber er würde wahrscheinlich die Leute kennen, die das Auto präpariert hätten. Offenbar ging sie auf Distanz.
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Die Zöllner fürchten lernen
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Das Konsulat hatte Patroni Griffi (62) empfohlen, Vertrauensanwalt der Botschaft, Studium in Deutschland, ein zuverlässiger Verteidiger. Am Telefon klang seine Stimme wie Sarrastro persönlich, durch nichts aus der Ruhe zu bringen in den heiligen Hallen des Tribunale, die uns erwarteten. Ich vereinbarte mit ihm ein Treffen am anderen Morgen. Die Flugverbindungen waren schlecht, ich musste den Nachtzug nehmen. Bis dahin war ich mit dem Auto nach Italien gefahren und hatte dabei nur die Zöllner fürchten gelernt. Im Zug erhielt ich die erste Lektion im italienischen Rechtssystem: In Innsbruck wurden die Pässe eingesammelt, damit wir beim Zoll nicht geweckt werden mussten, und der italienische Schaffner bat unverhohlen um ein Trinkgeld, um uns vor nächtlichen Gasangriffen zu schützen. Einige Banden hatten sich darauf spezialisiert, die Passagiere gegen Morgen mit Lachgas zu betäuben, gingen dann mit Nachschlüsseln in die Kabinen und räumten sie aus. Mit der Schutzgebühr konnte man das offenbar verhindern.
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Die Einfahrt in Neapel bescherte neue Einblicke in die Hinterhöfe längs der Bahngleise. Auf dem Weg zum Taxistand kam ein junger Mann auf mich zu und stellte sich als deutscher Referendar vor. Er sollte mich abholen. Neben ihm ein kleiner Inder mit riesiger Chauffeursmütze. Ich wusste zwischenzeitlich, dass die Patroni Griffi zu den ältesten Adelsgeschlechtern Italiens zählen, das Empfangskomitee, die Mütze usw. – am Ausgang des Bahnhofes erwartete ich einen Daimler S-Klasse – und natürlich entsprechende Honorarforderungen. Wir wühlten uns durch den Bahnhofsvorplatz. Wo konnte man hier parken? Kein größeres Auto war zu sehen. Aber neben einem Fiat 500 mit abblätternder Farbe standen zwei Buben, der Chauffeur drückte ihnen zum Dank dafür, dass sie das Auto nicht geklaut hatten, einen angemessenen Betrag in die Hand und ich nahm auf dem Rücksitz Platz. Nun hat ein Fiat 500 nichts, was man als Rücksitz bezeichnen kann, dafür aber andere Vorteile: Je näher wir in die Innenstadt kamen, desto enger wurden die Straßen und am Ende passte links und rechts gerade noch eine Handbreit neben das Auto, wenn es sich langsam durch die Menschen tastete.
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Nur ein Zimmer mit winzigen Arbeitsflächen
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In der Via Tribunale öffnete sich ein Tor und im Innenhof war ein wenig Platz. Der Weg zum Büro führte über eine steile Holztreppe, an deren Ende empfingen uns einige Sekretärinnen (die offenbar nichts Besseres zu tun hatten) und dann endlich trat ich in das prächtige Zimmer des Löwen von Neapel. Ein kleiner Mann mit weißen Haaren (Typ Ben Gurion), der mit Stolz auf die unter Glas gerahmten Zeitungsberichte über die Mordprozesse deutete, die er vor allem in den Fünfziger- und Sechziger-Jahren erledigt hatte. Um ihn herum drei junge Anwälte, der deutscher Referendar und ein spanischer Praktikant, von denen die Hälfte sich ständig im Zimmer des Meisters aufhielt, um gemeinsam mit ihm Fälle zu besprechen oder etwas auszuarbeiten. Für alle gab es nur ein Zimmer mit winzigen Arbeitsflächen. Man arbeitete im ständigen Dialog. Auch zum Mittagessen gingen wir gemeinsam. Es dauerte eine gewisse Zeit, bis wir über den Fall reden konnten, und diese Besprechung bestand in erster Linie aus der Schilderung der Staatsanwälte und Richter, die sich mit dem Fall beschäftigen würden. Jeder Einzelne wurde filigran porträtiert, und des Ergebnis des Falles schien sich in erster Linie danach zu richten, wer zu entscheiden hatte. Die entscheidende Frage war natürlich: Konnte man Laura Mitwisserschaft anlasten? »Das werden sie nicht versuchen«, meinte er, »sehen Sie doch das Bild – sieht sie nicht aus wie ein Engel?«
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Sorge ums Strafmaß
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Italienische Anwälte dürfen gelegentlich sentimental werden, dachte ich mir, musste ihm dann aber Recht geben: Auch in Deutschland ist Schönheit kein Argument, aber beim Urteil zählt sie doch – denn da entscheidet nicht nur der Kopf, sondern auch das Gefühl. Aber wie würde unser Engel nach ein paar Monaten italienischer Untersuchungshaft aussehen? Und was für ein Strafmaß stand hier im Raum? Ich machte mir wirklich Sorgen. In München gab es bei der Staatsanwaltschaft die bekannte Regel »So viel macht so viel«, und so wurden für ein Kilo Heroin immer zehn Jahre »eingeschenkt«, und zwar ziemlich unabhängig davon, wie die konkreten Umstände lagen. Die türkische Drogenmafia machte es z. B. so: Sie griff sich an den Flughäfen Gastarbeiter aus Anatolien und drückte ihnen eine Plastiktüte mit Inhalt und dazu noch 500 DM in die Hand, die andere Hälfte würde der Abholer zahlen. Schmuck sei in den Päckchen für eine wichtige Hochzeit und der Post oder gar dem Zoll wolle man das wertvolle Gut nicht anvertrauen. Natürlich kann man sagen, dass so ein Bote ziemlich naiv war und den Drogenschmuggel mindestens »billigend in Kauf nahm«. Aber zehn Jahre Haft?
In der ersten Instanz wurde Laura zu drei Jahren verurteilt. Ihr Freund hatte gestanden, Hintermänner wurden festgenommen, und der Chef-Fahnder gab zu, dass er einen gezielten Tipp bekommen hatte, sich diese Kuriere zu packen. Das machen die Großhändler so, damit sie die wirklich großen Sendungen an anderen Stellen ohne Ärger über die Grenze bekommen. Patroni Griffi war verärgert. Er machte Druck und erreichte eine Berufungsverhandlung nur ein Jahr nach dem ersten Urteil.
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Das italienische Frauengefängnis als eine Art Internat mit angeschlossenem Kindergarten
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Laura war erstaunlich gelassen. Als ich sie im Frauengefängnis in Caserta besuchte, war mir schnell klar, warum: Im Grunde war das eine Art Internat mit angeschlossenem Kindergarten, denn ein gutes Drittel der Frauen kam mit Kindern oder brachte sie dort zur Welt. Die Verwaltung hätte es herzlos gefunden, Mutter und Kind zu trennen: Die Zellentüren waren den ganzen Tag offen, die Besuchszeiten wurden locker gehandhabt, die Wärterinnen zeigten den Müttern, wie man Babysachen strickt. Weihnachten wurde der große Christbaum im Innenhof geschmückt und jeder erteilte jedem Sprachunterricht – Laura sprach schon sehr ordentlich Italienisch, manchmal mit der leicht brüchig klingenden Stimme einer älteren Trickdiebin, die sich ihrer angenommen hatte. Wer Geld hatte, ließ aus einem nahe gelegenen Restaurant Pizza für alle kommen, tauschte das gegen Kinderbetreuung usw. Ein lebhafter Betrieb!
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Richter mit Sonnenbrillen
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Der Justizpalast in Neapel liegt mitten in der Stadt. Alt und schwarz steht er da, umflattert von Tauben, den Ratten der Lüfte. Innen drin geht es lebhaft zu. In jedem Gerichtssaal werden die Gefangenen hinter Gittern oder Glaskäfigen versteckt, damit sie nicht randalieren. Trotzdem lungert ein Haufen Carabinieri in den Gerichtssälen und auf den Gängen herum. Sie scheinen Planstellen zu besetzen, die sich in ihrer Anwesenheit erschöpfen. Gefangene werden vorbeigeschleppt, die Handschellen sind riesige Schraubzwingen, die wie Folterinstrumente aussehen. Patroni Griffi wird von drei jungen Anwälten und zwei Referendaren begleitet, zusammen sitzen wir also mit sieben »Verteidigern« auf der Bank. Staatsanwälte und Richter tragen prächtige Roben mit goldenen und silbernen Seidenkordeln. Daneben fühlte ich mich ziemlich schäbig. Und dann der Schock: Drei Richter betreten den trüben Raum, der nur durch ein Oberlicht erhellt wird – alle drei tragen Sonnenbrillen wie Al Capone und seine Freunde der italienischen Oper« – und sie nehmen sie während der ganzen Verhandlung nicht ab!
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In jedem Lokal einen Gang – um viele Kollegen zu treffen
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Die Verhandlung bestand aus dem Kampf um die Bewährung. Um 13 Uhr: die heilige Siesta für alle. Wohin geht man mit sieben Leuten essen? An der Via Tribunale und ihren Seitenstraßen gibt es eine Vielzahl winziger Restaurants und Stehimbisse, die in dieser Zeit ihr Hauptgeschäft machen. Und zwar mit drei Gängen. Einige essen ihre Spaghetti Vongole im ersten Laden, das Cassata im zweiten, den Caffé im dritten usw., damit sie mit möglichst vielen Kollegen über ihre Fälle plaudern können. Auch Staatsanwälte oder Richter, die normalerweise unter sich bleiben, kreuzen gelegentlich hier auf. Patroni Griffi bestellte sich eine Schokolade, und als sie kam, wurde sie vor seinen Augen von einem der jungen Anwälte gepackt und blitzschnell ausgetrunken. Er fing meinen Blick auf, nahm mich beiseite und flüsterte: »Il Conte darf keine Schokolade trinken, er weiß das auch, aber er will sie wenigstens riechen!« Auch so wurden Beziehungskonten aufgebaut und abgeräumt.
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Mir war die Gelassenheit unheimlich, in der man dies und das besprach, aber dann begriff ich, dass die Anwälte untereinander mitten in der Pause tüchtig arbeiteten. Der kleine Informationsverkehr floss, die Netzwerke wurden ausgebaut und irgendwann würde das jedem nützlich sein. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht mehr verkneifen, wann die Verhandlung wohl fortgesetzt würde – niemand hatte das mitgeteilt. »Pian piano – ohne uns können die nicht weitermachen«, bedeutete mir einer der jungen Kollegen. Was ich nicht wusste: Um 14.15 Uhr erschien einer der Carabinieri, der vorher im Gerichtssaal umher gestanden hatte, und mahnte zum Aufbruch. »Pian piano«, sagte man ihm, klopfte ihm auf die Schulter und lud ihn zu einem Caffé ein. Genauso machten es seine Kollegen: Sie kämmten die Restaurants durch, um die Anwälte wieder einzusammeln. Darauf verlässt sich jeder. Eine Uhr braucht man nicht. Im Gerichtssaal dauert es noch eine gute Viertelstunde, bis auch die Richter wieder seufzend erschienen, um die Sache hinter sich zu bringen.
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Die elegante Lösung
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Wir hatten ein klares Ziel: Bewährung! Dazu mussten wir unter zwei Jahre kommen und für eine günstige Sozialprognose einen von der italienischen Justiz jederzeit kontrollierbaren Arbeitsplatz nachweisen. Für eine deutsche Studentin in dieser Situation unmöglich. Aber Patroni Griffi hatte die Lösung schon längst in der Hand: Er braucht Laura dringend als Dolmetscherin, erklärt er dem Gericht – er ist der Vertrauensanwalt der Botschaft und hat ständig deutsche Klienten – und er gibt ihr einen Vertrag für ein Jahr. Solange muss sie noch in Italien bleiben. Was für eine elegante Lösung! Erst später habe ich erfahren, dass auch der indische Fahrer seine Freiheit diesem erprobten Modell verdankt. Zwei Jahre später schickte Laura mir aus Thailand einen rot-goldenen Thangka »als Dankeschön für Geduld, Optimismus und Stellenvermittlung«. Was hatte sie da zu tun? Gefährliche Gegenden schien sie zu lieben.
Strasbourg 1992 – 1997
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Der Bürgermeister von Strasbourg lädt 2011 die deutschen Rechtsanwälte zum 62. Deutschen Anwaltstag ein, erstmals im Ausland, erstmals in Frankreich. Daniel Cohn-Bendit hält den Hauptvortrag. Er ist 1945 in Frankreich geboren, Sohn eines Rechtsanwalts, der 1933 aus Berlin fliehen musste, die Mutter Französin. Er konnte die französische Staatsbürgerschaft nicht erhalten, weil in gewissen Jahren sein Verhalten an der Universität Nanterre »nicht den guten Sitten« entsprach, wie man es in Frankreich gemäß Artikel 68 Staatsangehörigkeitsgesetz von Ausländern verlangt (in Deutschland wäre so eine Vorschrift verfassungswidrig). Viele Zuhörer kennen auch seine deutsche Vergangenheit, aber all das ist vergessen, weil er die große europäische Erzählung, deren Teil er selbst ist, spannend und bewegend vorzutragen versteht. Die großen Kriege werden heraufbeschworen, das Wunder vom Rhein wird erzählt, der »heute keine Grenze mehr ist«, das Wunder der Solidarität, das Teile des früheren Ostblocks nach Europa geführt hat, wird gefeiert und am Horizont taucht schon das Wunder vom Bosporus auf, neben dem sich das Wunder vom Mittelmeer – die Rebellion in den arabischen Staaten – abzeichnet. Krisen können nur gemeinsam bewältigt werden: »Die Finanzkrise 2008 hat bewiesen, dass die normative Regulierung einer solchen Krise kein einzelner europäische Nationalstaat alleine stemmen kann.« Die Flüchtlinge von Lampedusa muss man nur richtig verteilen, von der griechischen Korruption haben die Lieferanten aus den anderen europäischen Ländern (vor allem die Waffenlieferanten) heftig profitiert – also sollen sie jetzt zahlen usw. Wir müssen Europa wollen! Rauschender Beifall.
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Gemeinsame Manöver
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Wenn andere Politiker uns diese Geschichte weniger elegant erzählen, hält sich der Beifall in Grenzen. Es werden Zweifel laut. Die meisten Politiker halten die europäische Idee aber nur für schlecht erklärt: »Wir müssen den Leuten sagen, was sie wollen sollen« (Claudia Roth). Ihr sollte man wirklich Brechts Empfehlung nahelegen, sich ein anderes Volk zu wählen. Mir musste man bei meiner zweiten Begegnung mit Franzosen in Strasbourg nicht viel erklären. Fast 50 Jahre vorher (1964) war ich als Soldat der Bundeswehr in Straßburg gewesen. Ein Jahr nach dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich waren gemeinsame Manöver zwischen Deutschen und Franzosen auf dem nahe gelegenen Truppenübungsplatz Bitche vereinbart worden. Scharfer Lackgeruch auf den heiß gelaufenen Panzern, Hitze, Dreck – der übliche Armeebetrieb. Dann das Wochenende. Die Soldaten sollten in Strasbourg in Uniform ausgehen. Man hatte eine Liste der Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, damit sie nicht in irgendwelchen Kneipen versumpften. Ich musste als Fahnenjunker meine Gruppe entsprechend schulen und bekam als Assistenz drei französische Caporals, die ein bisschen Deutsch konnten. Der strenge Befehl lautete: die Gruppe immer geschlossen halten, sich aber gleichzeitig im Straßenbild unauffällig machen.
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Ich hatte mich schon als Schüler mit der europäischen Idee angefreundet. Europa auf dem Stier hing über meinem Schreibtisch. Aber diesem seltsamen Plan widersprach ich lebhaft – ohne Erfolg, denn der politische Wille drückt sich in der Armee durch Befehle aus. Es war ein Spießrutenlaufen. Heute würde man die Straßburger mit jubelnden Pressekampagnen zur Umarmung der Fremden aufgefordert haben und der Bundespräsident hätte im vorbereitenden Interview gesagt, selbstverständlich habe die deutsche Kultur schon immer zu Frankreich gehört (was an diesem Ort sogar eine richtige Behauptung gewesen wäre). Aber damals war das noch nicht Mode. So sahen sich die Franzosen zwanzig Jahre nach dem Krieg mitten in Straßburg erneut mit deutschen Uniformen konfrontiert, sollten es nun aber als Zeichen der Völkerfreundschaft deuten.
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Gefüllter Gänsehals – kein Highlight
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Das war zu viel verlangt. Ständig waren unsere französischen Attachées damit beschäftigt, zu erklären, warum sie soeben mit diesen Feinden gemeinsam im Dreck gelegen hätten. Jetzt wollten sie nur auf das Münster steigen, um dort Goethes Graffiti zu bewundern, nicht aber, um einen vorgeschobenen Artilleriebeobachter einzusetzen. Von dieser ungewohnten Arbeit bekamen wir Hunger. Kaum hatten wir ein Restaurant betreten, legte sich beim Anblick unserer Uniformen entsetztes Schweigen über die Gäste. Da konnte uns auch kein Übersetzer mehr helfen. In einer Bahnhofskneipe gab es was, und ich war mit den Nerven so fertig,dass ich blind auf irgendeine Zeile in der Speisekarte deutete. Das war dann Cou d’oie farci (gefüllter Gänsehals) – kein Highlight der cuisine française.
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Wie sehr Europa sich in den nächsten 40 Jahren geändert hatte, konnte man auf dem Anwaltstag in Straßburg auf den ersten Blick erkennen. Wir applaudierten gemeinsam und danach ging ich ganz selbstverständlich mit den französischen Kollegen ins Maison Kammerzell, wir stolperten freundlich in den jeweils anderen Sprachen umher und der Kellner erklärte Baeckeofe: Der Elsässer Dialekt, den diese Franzosen bis vor kurzem nicht gern hörten, blüht wieder auf. Zu solchen Entwicklungen haben die Bemühungen der europäischen Anwaltskammern und Anwaltvereine ebenso beigetragen wie die Aufbauarbeit von Law Exchange und vergleichbaren Netzwerken.
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