Great Britten

Musikalisch stark, dramaturgisch schlüssig: „The Rape of Lucretia“ 

Die Deutsche Oper ist so etwas wie das Berliner Kompetenzzentrum für Benjamin Britten (1913 – 1976). Nach in jeder Hinsicht überzeugenden Aufführungen von „Peter Grimes“ und „Billy Budd“ in den vergangenen Jahren stand diesmal „The Rape of Lucretia“ auf dem Programm – die Übernahme einer Produktion des Glyndebourne Festivals 2013 unter der Regie von Fiona Shaw. Und wieder wurde es ein (fast) rundum überzeugender Abend.

Britten hat „Die Schändung der Lucretia“ 1946 geschrieben: Eine Kammeroper für 12 Instrumente, acht Solisten und ein Klavier, auch für ein Tourneetheater mit begrenzten Mitteln nach dem Krieg leicht zu realisieren. Den Bedingungen der Zeit entsprechend aber verlegte sich der Pazifist Benjamin Britten nicht nur auf einer kammermusikalische Form, sondern auch auf die Bearbeitung eines mächtigen moralischen Stoffes: Die Geschichte der tugendhaften Lucretia, die sich im lasterhaften Rom dem etruskischen Prinzen Tarquinius verweigert…, die von Tarquinius (deshalb) bedroht und vergewaltigt wird…, die von ihrem Mann Collatinus viel Verständnis und Zuwendung erfährt, sich aber eingedenk ihres zerstörten Lebens – und Selbstbildes – umbringt…,  deren Tod schließlich das Fanal zum Aufstand gegen die Fremdherrschaft und zur Geburt der römischen Republik aus dem Geist des Zorns ist – diese Geschichte gehört zum vielhundertfach zitierten mythologischen Grundinventar der Antike.

Britten reduziert und verlängert den Stoff zugleich: Er erzählt die Schändung nicht als wichtiges Kapitel in der abendländischen Demokratiegeschichte, sondern als Lehrstück über Schuld, das Böse und Erlösung im Lichte der christlichen Morallehre. Seine antike Lucretia ist eine weibliche Jesusfigur, die sich (und uns) mit ihrem Opfertod am Ende von ihrer „Sünde“ (unseren Sünden) rein wäscht, die der Menschheit Katharsis schenkt, die Perspektive auf einen Neuanfang. Tatsächlich kann man das Stück und seine Musik nur begreifen, wenn man sich die Ungeheuerlichkeiten der Verbrechen, die Zerstörung und das Leid während des Zweiten Weltkrieges vor Augen hält: Die tugendvolle Reinheit der Wolle spinnenden Lucretia wird von Britten ungebrochen sehnsuchtsvoll unterstrichen durch Harfenpoesie; die Traurigkeit des wiederkehrenden Oboenmotivs nach dem Tod der Lucretia ist ergreifend unmittelbar, ja: unverschämt empfindungsvoll geschrieben.

Die Regie folgt Brittens Intentionen präzise, setzt sich behutsam über das pathosschwere Libretto hinweg, ohne auch nur im Entferntesten seine unmodern-religiöse Botschaft bloß zu stellen. Sie übersetzt die kräftigen (Kriegs-, Gewalt- und Heimidyll-) Stimmungen in einfache, prägnante Bilder und verleiht den emblematischen Charakteren menschliche Tiefe, ohne sie durch angedichtete Ambivalenz in Unbestimmtheit zu entlassen. Lucretia zum Beispiel ist keine marmorne Tugendstatue, sondern ein menschlich‘ Wesen aus Fleisch und Blut, die sich die Fähigkeit zu treuer Liebe erhalten hat. Und Tarquinius kein Mephistoteles-Giovanni, der sein teuflisch-gewaltsam Testosteron-Spiel auf die Spitze treibt, sondern ein zynisch gewordener Soldat, der von der bösen Natur des Menschen überzeugt ist und am Guten verzweifelt.

Das Geschehen spielt sich historisch-heutig in einer Ausgrabungsstätte ab, der solistisch besetzte, erzählende „Chor“ ist das Bindeglied zwischen Damals und Heute, teilnehmender Beobachter und beobachtender Teilnehmer zugleich. Die menschlichen Abgründe und Schicksale werden nach und nach seziert, buchstäblich ausleuchtet, freigelegt – bis die Gebeine von Lucretia zuletzt archäologisch zum Kreuz arrangiert und damit christlich interpretiert werden.

Britten goes Parsifal also – und das im Jahre 2014? Nun, die Regie macht sich, wie angedeutet, leicht angreifbar für religiös unmusikalische Menschen, aber sie macht eben deshalb alles richtig: Sie beschämt uns, weil wir keinen Sinn mehr haben für Tugend, Größe und Mitgefühl, weil wir in Siebenmeielenstiefeln und mit eingeübter „Kennen-wir-doch-alles“-Ironie über alles hinweggehen, was nach Moral, Rührung und „Gutmensch“ riecht. Sie beschämt uns, weil uns klar wird: Wir leben in unserer rational-entzauberten Wohlstandsblase, sehen uns das entfernte Kriegsgrauen in Syrien und die Flüchtlinge an den Grenzzäunen zu Europa abends in den Fernsehnachrichten an und gehen dann wieder zur Tagesordnung über – empathiearm, nichtwissend, buchstäblich ungerührt.

Ein erschütternder Abend also, musikalisch stark, sängerisch ohne Fehl und Tadel – herausragend: Duncan Rock (Tarquinius), Thomas Blondelle (Male Chorus) Elena Tsallagova (Lucia) – und dramaturgisch schlüssig. Heute Abend (18 Uhr) noch einmal im Haus der Berliner Festspiele: Highly recommended.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*