Sicherheit versus Freiheit. Ohne Organspendeausweis zum Sport.

Sicherheit, das scheint zu dem wichtigsten Ziel unserer Gesellschaft zu werden, zu dem wichtigsten Gut, mehr als Freiheit oder etwas anderes. Sicherheit am Arbeitsplatz, im Fahrstuhl. Oder im Leben ganz allgemein. Der Versuch, Risiken zu minimieren, begleitet so gut wie jedes Projekt. In der Schweiz wurde ich beim Besuch der Produktionsstätte eines Kaffeerösters gebeten, beim Weg durch das Treppenhaus, die Hand am Geländer zu nutzen. Man wolle Unfälle vermeiden.

Kaum Gewicht, doch irgendwie Ballast. Bleibt nun daheim.

Kaum Gewicht, doch irgendwie Ballast. Bleibt nun daheim.

Wer will das nicht? Gesund bleiben. Kein Risiko eingehen, das nicht nötig ist. Das gilt sicher in vielen Fällen umso mehr für Menschen, die Sport betreiben, um ihr Risiko einer Erkrankung zu mindern. Mehr Bewegung, weniger Kilo, gesünderes Leben ist die einfache Gleichung. Doch der Sport selbst, und dafür muss es nicht Basejumping sein, birgt Risiken. Schwimmer, die in Badeseen trainieren, riskieren, dass kein Bademeister zusieht, Radfahrer immer auch schwere Unfälle, Läufer doch mindestens mal eine Ohnmacht oder gar einen Sturz, vielleicht sogar auf den Kopf. Und dann weiß niemand, wer man ist.

Zu Beginn meiner Lauflaufbahn hatte ich neben Energieriegeln dabei:

  1. Monatskarte für den ÖPNV
  2. EC-Karte
  3. Mobiltelefon
  4. 20-Euro-Geldschein

Neben meinem Musikspieler natürlich. Ich war also ganz gut beladen. Die Angst, auf halber Strecke Probleme zu bekommen, war da. Auch die Idee, dass im Falle des Falles mich jemand identifizieren kann, gab mir ein gutes Gefühl. Inzwischen sind diverse Armbänder oder Umhänger erhältlich, auf denen die persönlichen Daten des Trägers zu finden sind. Auch dies: Zur Sicherheit.

Heute laufe ich ohne alles. Kein Blutspendeausweis. Kein Organspendeausweis, kein Telefon, keine EC-Karte, kein Geld, keine Karte für den Nahverkehr. Und fühle mich frei. (Und kaum weniger sicher.)

Warum? Am schnellsten verzichten konnte ich auf das Telefon und die Nahverkehrskarte. Irgendwann, mit ausreichend Training, weiß man, dass man wieder zurückkommt, dass die Kräfte einen nicht mittendrin verlassen. Das ist Erfahrung, die einfach kommt. Ein Anruf, um abgeholt zu werden oder selber sich zur Bushaltestelle schleppen – es war mehr als ein Jahr lang nicht nötig. Das Risiko, dass das nun regelmäßig eintritt – ich halte es für zu vernachlässigen. Würde es passieren, bitte ich halt einen Passanten um Hilfe.

Danach blieb auch die EC-Karte und das Geld daheim, ich werde schon kein Taxi brauchen. Siehe oben. In seltenen Fällen im Winter, wenn die öffentlichen Trinkbrunnen, die es durchaus noch gibt, abgestellt sind und ich weiß, dass ich auf halber Strecke etwas zu trinken brauche, stecke ich ein paar Münzen ein für ein Getränk von der Tankstelle oder dem Kiosk. Meist wird’s ein Malzbier auf Ex.

Und auch wenn diese Dinge nur ein paar wenige Gramm wiegen – ich fühle mich überraschend erleichtert. Befreit von einem Ballast, der eigentlich meiner Sicherheit dienen soll. Noch ein mal: Laufen ist kein Basejumpen. Es ist vergleichsweise sicher, vor allem gegenüber Rad fahren, wo ich schon eher Geld und Telefon mitnehme, weil man sich auch weiter von daheim entfernt.

Aber ich genieße meine mir erarbeitete kleine Freiheit, für eine kurze Spanne des Tages, ein mal nicht erreichbar, ein mal nicht abgesichert, sondern allein auf mich selbst gestellt zu sein (und wir reden über eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, nicht die Anden.)

Mit der abnehmenden Sorge über etwaige Probleme, stieg das Vertrauen in meine eigenen Fähigkeiten und die Zuversicht, dass schon alles gut wird. Keine Vollkaskosorge, sondern ein kleines wenig Ausbruch aus einem Alltag, der links und rechts abgesichert ist.

Ich respektiere jeden, der lieber mit Sport-ID und Ausweis auf seine Touren geht, ein Bekannter von mir zeigte auf Facebook heute seine nun komplettierte Sammlung an absichernden Dokumenten. Jeder muss sich wohl fühlen, wer sich mit Dokumenten besser fühlt, wird den Sport mehr genießen, weil er sorglos ist.

Ich aber erfreue mich mehr und mehr daran, für eine bis zwei Stunden die Illusion zu leben, ich hätte keine Verpflichtungen, müsste mich um nichts kümmern und sorgen – und wäre frei.

 

 

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Alle Kommentare [8]

  1. Hey,
    Geht mir auch so, wobei es ein Lernprozess war, der auch mit dem wachsenden Vertrauen in sich selbst zu tun hat. Allerdings kann ich mich von zwei Sachen nicht trennen. Einem zwei Euro Stück für ein Getränk und meinem ID Armband. Letzteres gibt mir einfach ein gutes Gefühl und trage ich nicht nur während des Sports.

    VG Alex

  2. Jetzt hab ich Angst. Bis vor ein paar Minuten habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, was ich mitnehmen soll aus Sicherheit. Vielleicht bin ich nicht verantwortungsvoll genug, darüber werde ich enmal nachdenken.

    Wenn ich laufen gehe, habe ich mein Telefon dabei, weil es mir zum Aufzeichnen der Strecke dient und meinen Haustürschlüssel. Das Telefon ist auf lautlos gestellt, ich will ja nicht dran gehen wenn ich laufe, so wichtig bin ich nicht.

    Ansonsten nehme ich unter Umständen mal eine Wasserflasche mit, aber nur wenn ich weit laufen möchte.

    Wobei meine Laufstrecken so sind, dass spätestens nach einer Stunde mal einer vorbei kommt und mich finden würde. Laufe ich so abgelegen, dass man meinen modrigen Körper erst nach Monaten/Jahren finden würde, könnte ich darüber nachdenken etwas mehr mit mir zu tragen.

  3. Ich trage beim Sport diese ganzen Utensilien an meinem Körper( sie wiegen nicht viel ) da ich auf dem Land wohne und oft größere Entfernungen mit Rad und zu Fuß zurücklege.Ich habe ein Smartphone mit extra eingespeicherten Notrufnummern und den Nummern meiner Familie.Geld und extra Münzen für die Telefonzelle ( es gibt noch welche ) auch der Mobilempfang ist nicht immer gesichert.Den Blut/-Organspendeausweis für den schlimmsten Fall um unnötige Zeit nicht zu vergeuden und meiner Familie manch unangenehme Entscheidungen vorwegzunehmen.Die Hundemarke um den Rettern wissen zu lassen,mit wem sie es zu tun haben,bzw die Familie zu benachrichtigen.Da bei einem Unfall oftmals die Ausweise unkenntlich werden,ist die Hundemarke ein sicheres Erkennungsmittel.Ich hoffe natürlich,daß ich nie die Dinge benötige aber im Fall der Fälle…..Ich danke Thorsten für diesen Blog für die Möglichkeit auf dieses Thema aufmerksam zu werden.Weiter so Thorsten!!!
    Herzliche Grüße aus dem bucklichen schönen Kraichgau ! Thomas

  4. Mal so, mal so … damit komme ich gut zurecht. Am Anfang war ich wenig vorsichtig, aber je ernster ich das Laufen nahm um so mehr war dabei.

    Nachdem die Sicherheit kam, lies ich das Handy weg – ausser ich wollte Musik hören. Ich war mir so Sicher, bis ich meiner Frau einen kräftigen Schrecken beschert habe. Ich wurde wenige KM von Zuhause entfernt von einem Gewitter überrascht … ein kurzer Zwischenbescheid hätte hier viel Ärger gespart.

    Inzwischen habe ich das Telefon nur bei langen Läufen oder Läufen in unwegsames Gelände mit. Im urbanen Umfeld hab ich weder Geld noch Telefon dabei. So ein Secure-ID-Band habe ich auch … vor allem fürs Fahrrad, aber wenn es jetzt wieder Winter und Dunkel wird, dann hab ich das auch wieder am Arm. Keineswegs für meine Sicherheit (was soll das auch bringen?) – sondern zur Beruhigung meiner Familie. Als Ausdauersportler verursacht man ja schon genug Sorgen im Umfeld, da kann man ja ein kleines bisschen entgegenkommen 😉

  5. Stimme Dir in vielen Punkte zu.
    Aber, in unseren Breitengraden (wohne im fränkischem Jura) gehört zumindest ein Telefon mit zur Grundausstattung.
    Habe es zu oft schon erlebt, dass man sich auf einem kleinen Waldweg – Neudeutsch: Trail – den Fuß vertritt. Ohne Kontaktmöglichkeit zur Aussenwelt ist dann guter Rat teuer.
    Sicherlich ein Punkt der in der Stadt, oder im Stadtnahen Umfeld nicht zum tragen kommt, da hier ja von Haus aus schon mehr Menschen unterwegs sind.

  6. Stimme absolut zu. In nunmehr 12 Jahren Läufen quer durch Felder und Wälder bin ich genau einmal in die Situation gekommen, dass ich zuhause anrufen musste zum Abholen (Muskelfaserriss 8 km von zuhause entfernt). Da sind genug nette Menschen unterwegs, die einem auch mal das Handy leihen. Ansonsten – wozu immer alles mitschleppen? Gerade gestern die Diskussion mit einer Kollegin, die ohne ihr Smartphone, GPS, Ausweis, Geld, Musikdownloads nie losläuft …. sie läuft übrigens immer so 20 bis 25 Minuten-Runden im Park 🙂
    Gruß aus Nürnberg