Oresteia – alles nur Demokratietheater?

Iannis Xenakis‘ Musiktheater „Oresteia“ auf dem Parkdeck der Deutschen Oper: Eine überwältigende Sternstunde – und ein kleines Desaster

Jürgen Flimm ist da, der Intendant der Staatsoper, die Schauspielerin Eva Mattes, und kurz bevor es losgeht, findet auch der Gastgeber, Generalmusikdirektor Donald Runnicles, noch einen Platz in Holzbankreihe fünf oder sechs. Es ist zugig und frisch auf dem Deck des Parkhauses hinter der Deutschen Oper, das Personal hat weiße Styropor-Sitzkissen verteilt, wie angenehm, am mächtig eingetrübten Abendhimmel zieht ein Schwarm Krähen vorbei, wie passend. Die Bühne der Deutschen Oper wird renoviert, also findet die Saisoneröffnung Open-Air statt, auf einer Betonfläche, vor hohen Häuserfronten, zwischen Gitterzäunen und Straßenlaternen, an einer großen Laderampe – vor dem Palast der Atriden: Eine weite Holztreppe lenkt die Blicke hinauf – dort oben also, hinter den mächtigen Stahltoren zum Kulissenmagazin rechts, sind Fluch und Schicksal zu Hause, dort herrschen Meuchelmord und Blutrache, lauern Hinterlist und nachtschwarze Gedanken.

Alles an diesem Saisonauftakt ist groß und spektakulär, das Setting, die Musik, das Stück und die Inszenierung: Aischylos‘ Orestie-Trilogie, die Gründungsurkunde und Ikone des abendländischen Dramas, hochverdichtet zum einstündigen Musiktheater von Iannis Xenakis, einem Aushängeschild der Neuen Musik – überrumpelnd prägnant in Szene gesetzt von David Hermann, der bereits vor zwei Jahren so starke Bilder für Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ gefunden hatte…

Und auch diesmal scheint Hermann zunächst alles zu gelingen, knüpft mit seinem Schafs- und Bock-Chor an antike Traditionen an, lässt Agamemnon und Klytaimnestra, Elektra und Orest mit riesenhaft gesichtslosen, schwarzen Schaumstoffmasken auftreten, aller Individualität und Menschlichkeit beraubt durch Zornesdüsternis und endlose Schuldverstrickung: Bekanntlich hat Agamemnon seine Tochter Iphigenie vor zehn Jahren in Aulis geopfert, weshalb Klytaimnestra, seine Frau, und Ägisth, ihr machthungriger Geliebter, ihn nun bei seiner Rückkehr meucheln werden, was wiederum Orest nicht dulden kann, der Sohn des Agamemnon, der angestachelt von seiner Schwester Elektra zum Muttermörder wird, von den Erinnyen verfolgt für seine Missetat… – bis endlich Pallas Athene ihren großen Auftritt hat und die Rachegöttinnen besänftigt, indem sie ihnen als wohlgesinnte Eumeniden einen Platz in ihrer hinfort rechtmäßig und demokratisch verfassten, durch Vernunft und höhere Einsicht geprägten Polis anweist…

Hermann und sein Team bringen das alles bildgewaltig, höchst effektvoll auf die Bühne: Die Schafe traben zwischen den Zuschauerreihen einher… Ein Bagger fährt in aller bedrückenden Stille auf die Bühne und bringt Kassandra um die Ecke, die das Unheil wieder mal hat kommen sehen und der mal wieder niemand Glauben geschenkt hat… Der Chor singt von ganz weit links aus weiß beleuchteten Fenstern…, die Schafe vorn werden von weit hinten dirigiert mit einem roten Leuchtstab…  Ständig dreht und wendet der Zuschauer sich, ist dauernd einbezogen, angeregt, beschäftigt – und aufgewühlt durch die ungeheuer suggestive, spitz tönende, perkussive Musik von Xenakis, die in einen fährt wie ein mächtiger Energiestrom.

Xenakis hat die Partitur in den 1960er Jahren verfertigt, sie anschließend zu einer Konzertsuite gestrafft, dann gekürzt, später wieder ergänzt durch ein gut zehnminütiges Solo für Kassandra und den abschließenden Athene-Auftritt. Beide Soli sind nicht fugenlos eingelassen in das Stück, sondern förmlich abgesetzt, kontrastreich gestaltet. Besonders eindrucksvoll der „Dialog“ der „Kassandra“ mit dem ungläubigen Chor: ein ritualhafte Sprech-Schrei-Klage-Arie, in der die Seherin fast physisch zur Verzweiflung getrieben wird vom Schlagzeug-Gewitter, das sie umtost: Seth Cirico, changierend zwischen Falsettstimme (Kassandra) und natürlichem Bariton (Chor), steht da wie der Heilige Sebastian in Erwartung der Pfeile, stampft und badet im Blut, singt und klagt sich die Seele aus dem Leib – ein erschütternd intensiver, überwältigender Opernmoment.

Aber Xenakis kann auch anders. Man vernimmt Fanfaren, Glissandi, durch Halb-. und Vierteltöne erzeugte Reibungen und Passagen mit einfachen Chorsätzen, man lässt sich willig Wallung versetzen durch langsam sich auftürmende Klangwellen, die den Blutrausch vertonen – und wird zum Abschluss bei treibenden Rhythmen förmlich eingeladen, in den wilden Jubelchor einzustimmen – wobei man jederzeit den Eindruck hat, dass Xenakis in Dirigent Moritz Gnann und seinen Orchestermusikern begeisterte Anwälte seiner Musik gefunden hat.

Allein die letzte Viertelstunde ist, man muss es so deutlich sagen, ein Desaster. Welcher Teufel hat David Hermann geritten, als er auf die Idee verfiel, Athene als Parodie auf Hape Kerkeling als Parodie auf die niederländische Königin in einer S-Klasse auf die Bühne zu fahren? Mit einem Schlag ist die Wirkung der einfachen, starken Bilder dahin, die die archaische Gewalt des Stoffes so anschaulich versinnbildlicht haben (die Axt, die schwarz umwölkten Köpfe, der Bocksgesang…), die rohe Sinnlichkeit der altgriechischen Sprache, die kantige Wucht der vom Chor herausgemeißelten Textzeilen – und das Stück kippt ins Lächerliche.

Wieso vertraut Hermann plötzlich Aischylos nicht mehr, dem Stück, der Botschaft – seiner eigenen Inszenierungsidee? Warum hat er Angst vor dem Pathos, mit dem das Abendland seine großen Errungenschaften – Rechtsstaat, Demokratie – feiert? Warum meint er, die Demokratie bloß als einen weiteren Modus des Regierens – und nicht als einen anderen – denunzieren zu müssen? Macht es wirklich keinen Unterschied, Bürger einer griechischen Polis oder einer Tyrannis zu sein? Für David Hermann offenbar nicht. Er stellt die Demokratie als Theater bloß. Am Ende sehen wir willenlose Schafe, eingehegt von Eumeniden, die brav jubelnd, folgsam blöd ihre Fähnchen (im Wind der herrschenden Meinung?) schwenken. Ach, Gott. Immerhin passt ins Bild, dass Hermann sich zum Schlussapplaus zu ihnen gesellt: Ganz nah beim Mainstream – und eine Ewigkeit weg von Aischylos.

Die nächsten Termine: 12., 13., 15., 16. September

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*