Buchauszug Carsten Rath: „Schluss mit Everybody´s Darling – Warum wir besser leben, wenn wir uns nicht mehr für andere verbiegen“

Buchauszug Carsten Rath: „Schluss mit Everybody´s Darling – Warum wir besser leben, wenn wir uns nicht mehr für andere verbiegen“

 

Autor Carsten Rath auf Redaktionsbesuch bei der „WirtschaftsWoche“ im Foyer der Handelsblatt Media Group (Foto: C.Tödtmann)

 

Wettbewerb: Die Vergleichs-Falle

„Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: durch Nachdenken ist der edelste, durch Nachahmen der einfachste, durch Erfahrung der bitterste.“
Konfuzius

 

Der Teenager, der ins Internat ging und verschwand

Auch wenn man der Größte ist, kann man sich klein fühlen.

Diese Lektion lerne ich mit zwölf – an meinem ersten Schultag in einem schicken Internat in Bonn. Meine Eltern haben sich für den Schulwechsel entschieden, um mir einen frühen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Akademisch war ich bis dahin nämlich nicht durch Glanzleistungen aufgefallen, weil ich zu viel Energie in meine Leidenschaft Tennis und zu wenig in die Schule investiert hatte.

 

Körperlich bin ich der Größte in der neuen Klasse, und sportlich mindestens auf Augenhöhe mit den Besten. In der alten Schule hatte ich keine Schwierigkeiten gehabt, es in die coole Clique zu schaffen: Die rauen Jungs mit Street Credibility, denen die Mädchen in diesem Alter so langsam heimliche Blicke zuzuwerfen beginnen. Bisher hatte ich mich, in meinem kindlichen Leichtsinn und Tatendrang, eher zu groß gefühlt für mein Umfeld; für die Sackgasse, in der wir lebten; für die kleine Vorstadt an der Lahn und dem Rhein, in der ich aufwuchs.

 

Plötzlich habe ich eher das umgekehrte Problem: Da stehe ich nun, in der ersten Pause, buchstäblich zwischen Tür und Angel, und fühle mich unsichtbar. Ein Zustand, den wir uns als Erwachsene manchmal wünschen, weil er Abstand und Luft zum Atmen verspricht. Für einen Teenager ist es die Hölle.
Und das Schlimmste ist: Ich verstehe es nicht.

 

Der Faktor X

Auf den Kopf gefallen bin ich zu meinem Glück – oder, je nach Sichtweise, Unglück – ja nicht: Irgendetwas läuft hier, das sich den bescheidenen Erfahrungswerten eines Zwölfjährigen entzieht. Offenbar mache ich irgendetwas falsch, oder vielmehr: Irgendetwas macht mich scheinbar falsch. Ein Faktor X verhindert, dass ich dazu gehöre.

 

Es dauert einige Wochen, bis ich es wirklich verstehe und für voll nehme. Denn zunächst erscheint es mir absurd. Bis dahin bin ich in einer geerdeten, auf gesunde Weise durchschnittlichen Welt aufgewachsen, in der für Oberflächlichkeiten kein Platz ist. Mein Vater ist Unternehmer, aber er hat mich Fleiß und Genügsamkeit gelehrt – dass man hart arbeiten muss um etwas zu werden und etwas zu haben. Meine Mutter ist eine starke und zugleich sensible Frau mit dem Herz auf dem rechten Fleck und ohne Sinn für weltfremde Eitelkeiten. Ich bin es nicht gewöhnt, an Äußerlichkeiten gemessen zu werden – abgesehen vielleicht von meiner überdurchschnittlichen Körpergröße.

 

Die Vorstellung, dass Gruppenzugehörigkeit sich anhand eines Markenlogos auf einem Polo-Shirt entscheiden könnte, ist mir vollkommen fremd. Deshalb dauert es, bis ich das nicht nur erkenne, sondern auch begreife.
Es sind irritierende Wochen, aus denen drei anstrengende Teenager-Jahre werden. Denn wie ein Hieb mit dem Vorschlaghammer kommt plötzlich bei mir an, was dem zwölfjährigen Carsten, Strahlemann vom Dienst, Sportskanone und Rabauke, zuvor nie bewusst geworden ist: Das Leben ist voller Vergleiche. Und es ist nicht nur möglich, sondern auch ziemlich unangenehm, dabei den Kürzeren zu ziehen.

 

Bessere Kinder, bessere Welt: Lacoste-Kinder

Das Internat ist bevölkert von ‚besseren Kindern‘. Eine grauenhafte Formulierung, wenn man darüber nachdenkt. Für die meisten meiner Mitschüler ist sie ein völlig selbstverständliches Attribut. Sie sind Konzernsöhne, Diplomatentöchter und designierte ‚Erfolgsmenschen‘. Und neben einigen Codes und Umgangsformen, die sich mir damals verschließen, erkennen sie einander durch gewisse Etiketten, die sie wie Rangabzeichen am Leib tragen. Es dauert nicht lange, bis wir zu Hause anfangen, sie die „Lacoste-Kinder“ zu nennen. Luxusmarken sind in ihrem Kosmos nichts Wertvolles; sie sind eine Selbstverständlichkeit. Die Logos gelten ihnen als Erkennungszeichen und Eintrittskarten zugleich: Wer sie nicht trägt, gehört nicht zu ihnen.

 

Und ich tappe, natürlich, in die Falle. Ich will ja mitspielen. Mit zwölf will man nichts mehr als dazugehören – vor allem, wenn man sich unsichtbar fühlt. Ich kann nicht anders: Ich gebe der seltsamen Vergleichslogik nach und erkenne meine gefühlte Unzulänglichkeit am falschen Ende der Vergleichsskala. Ich schmerzlerne mich hinein in den Markenkosmos und kaufe mich ein in dieses Erfolgsbiotop der Macher von morgen – so gut ich, so gut meine Eltern es eben können und zu tragen bereit sind.
Ich will so sein ‚wie die‘. Und denke erst einmal nicht weiter darüber nach, dass ich dann ein bisschen weniger so bin ‚wie ich‘.

 

 

Carsten Rath: „Schluss mit Everybody´s Darling – Warum wir besser leben, wenn wir uns nicht mehr für andere verbiegen“. Goldegg Verlag, 256 Seiten, 19,95 Euro, https://www.goldegg-verlag.com/titel/schluss-mit-everybodys-darling/

 

Deo kann man kaufen, Würde nicht

Bis heute erinnere ich mich an meinen ersten Besuch im internatseigenen Shop. Das ‚billigste‘ Deo ist Aigner Nr. 2 – der Geruch der Achtzigerjahre. Es kostet 18 Mark. Ein absurder Preis für ein Deo, denke ich damals – was soll der Quatsch? Ich zeige mich im Laden, so oft es nötig ist – und nähere mich der Kasse nur, wenn es unvermeidbar ist. Das Aigner-Logo, ein schnörkeliges Hufeisen, wird zum Stoff meiner Alpträume. Wie das Lacoste-Krokodil ist es überall an diesem Internat, überall in meinem neuen Vergleichs-Universum. Wie eine mentale Tätowierung prägt es sich in mein Denken und Handeln.

 

Bis ich das Internat irgendwann wieder verlasse und alt genug bin, mich dem Einfluss des Hufeisens zu entziehen, das unablässig nach mir zu treten versucht. Bis ich alt genug bin, mich über seine Pseudo-Macht zu erheben. Und bis ich ‚erfolgreich‘ genug bin, mir Deos leisten zu können, die mehr kosten als 18 Mark – also ja wohl zwangsläufig auch ‚besser‘ riechen müssen als Aigner Nr. 2. Oder?
Noch später, irgendwann zwischen Erwachsenwerden und Reife, spielt der Preis eines Deos oder eines Paars Schuhe für mich dann irgendwann keine Rolle mehr. Nicht weil ich es mir leisten kann, sondern weil es mich nicht mehr interessiert. Irgendwann bin ich an dem Punkt, an dem ich mir nicht nur meine Duftmarken und Fußstapfen nach meiner Fasson anstatt nach Trend aussuche, sondern auch meine Vergleiche.
Irgendwann habe ich nämlich gelernt, dass man Deo, Schuhe, Autos, Unternehmen und sogar Freizeit kaufen kann, nur Würde nicht.

 

Botschaft an mein vergleichsgeplagtes Teenager-Ich

Natürlich falle ich dennoch bis heute regelmäßig ins Vergleichs-Universum zurück, das mich damals im Internat zum ersten Mal schmerzhaft in die Schranken wies. So wie wir alle tagein, tagaus mit Vergleichen konfrontiert werden, die wir uns nicht unbedingt ausgesucht haben. So oft und so hartnäckig krallen wir uns am Wettbewerb fest, dass wir uns manchmal wünschen unsichtbar zu sein – um uns endlich mal nicht vergleichen zu müssen.

Wenn ich in der Zeit reisen und meinem zwölfjährigen Ich etwas ausrichten könnte, dann wäre es das: Eines Tages wirst du verstehen, dass es nur einen Wettbewerb gibt, in dem es sich ohne Wenn und Aber zu gewinnen und auch zu verlieren lohnt. Mit diesem kryptischen Rat und einem aufmunternden Zwinkern würde ich ihn weiter danach streben lassen, der Größte zu sein. Erst einmal. Für zehn, zwanzig, vielleicht sogar dreißig weitere Jahre. Leiden bildet.
Und vielleicht noch mit dem Hinweis, dass man es mit dem Deo auch übertreiben kann.

***

Born to be gleich

Vom Moment unserer Geburt an werden wir verglichen. Schau mal, der kleine Alex – sieht aus wie sein Vater. Ist aber dicker als sein Bruder. Hat weniger Haare als die kleine Tochter der Nachbarn. Läuft später als Holger, schreit lauter als Kerstin.
Wir haben noch nicht mal gelernt, dass man Hunger und Harndrang auch kontrollieren kann und nicht jeden anpinkeln sollte, der gerade im Weg steht, da sind wir schon Gegenstand der Erwartungen und Vergleichsbedürfnisse anderer.

Im Laufe der Kindheit setzt sich das muntere Vergleichen fort: Wer ist der Stärkste, wer hat die besten Noten, wer ist der Beliebteste? Nicht: „Schön, dass du eine Zwei hast“, sondern: „Wie viele Einsen gab es?“ Und später: „Warum wirst du nicht Anwalt wie Christian?“

 

Das Leben der Anderen

Kein Wunder, dass wir als Erwachsene unser Leben an Blaupausen ausrichten: In der Ausbildung oder Uni werden wir an den Jahrgangsbesten gemessen, im Job an den Top-Sales anderer und dem Kollegen mit den meisten Überstunden. Als arbeitende Menschen und sogar als arbeitgebende Unternehmer werden wir ständig mit Jubelbotschaften zugedröhnt, wie erfolgreich andere (angeblich) sind – mit ihrer Geschäftsidee, mit ihren Beförderungen, mit ihrem Bonus.

Zu Hause bekommen wir zu hören, dass andere mehr Zeit mit dem Partner verbringen und im Urlaub weiter weg geflogen sind. Der Nachbar hat schon wieder das größere Auto, die Tochter der Bekannten die besseren Berufsaussichten, der Onkel den besseren Blutzuckerwert.

Und wenn wir uns erschöpft ins Internet retten, denn welcher andere Zufluchtsort bleibt uns denn noch, geht es statt der erhofften Ablenkung gleich so weiter: Die sozialen Medien, Vergleichsmaschine schlechthin, lassen Freunde, Kollegen und Konkurrenten gefühlt immer besser aussehen. Mehr Kontakte, mehr Likes, mehr Fans. Wie machen die das? Und wie kriege ich das auch hin?

Ein Drittel der Facebook-Nutzer fühlen sich durch die Nutzung des sozialen Netzwerks schlecht, wie Forscher der Technischen Universität Darmstadt und der Humboldt-Universität zu Berlin herausgefunden haben. Sie sehen einen direkten „Zusammenhang zwischen Neid auf Facebook und der allgemeinen Lebens(un)zufriedenheit der Nutzer“.[i] Die „Neidspirale“ habe sich vor allem deshalb entwickelt, weil viele ihr Leben online übertrieben positiv darstellen.[ii]

 

Wir richten unser Leben an Vergleichen aus

Täglich schnappt sie zu, die Vergleichs-Falle: Ob wir es wollen oder nicht, wir messen uns immer an anderen – weil wir von klein auf nach den Erwartungen anderer beurteilt werden und die Vergleichssucht einfach übernehmen. Wir haben es nicht anders gelernt. Und so richten wir unser ganzes Leben an Vergleichen aus. Unsere Berufswahl, unsere Karriere, sogar unser Privatleben: Alles messen wir an Maßstäben, die auf dem Mist anderer gewachsen sind. Selbst, wenn wir uns auf dem Papier „selbstständig machen“ um endlich Herr der eigenen Schaffenskraft zu werden, vergleichen wir uns mit den Geschäftsmodellen, den Ideen, den Zahlen, eben: den ‚Erfolgen‘ der Wettbewerber.

Und bevor wir es uns versehen, messen wir unsere Kinder an unseren ‚eigenen‘ Maßstäben, die nie unsere eigenen waren. Oder, schlimmer noch: an unseren eigenen ‚Erfolgen‘. Oder, und es geht tatsächlich noch fieser: an den Erfolgen, die uns selbst angeblich verwehrt geblieben sind. Aus Gründen.

 

Die Welt der Opportunisten

Das Ergebnis dieser Kultur ist eine Welt der Opportunisten: Wir leben erwartungsgemäß und lassen uns treiben – von unserem Umfeld, von falschen Ratgebern, vom Markt, von Trends, von den ‚Überfliegern‘. Sogar die Entscheidung für einen der unzähligen „alternativen Lebensstile“, die sich auf Instagram so wunderbar in Szene setzen lassen, folgt in der Regel einem Bedürfnis nach Zugehörigkeit – ob Minimalist, Anarchist oder Veganer. Über sie kann man sich vergleichen, ohne an sich arbeiten zu müssen.

„Welches Smartphone ich habe, was ich anziehe, wie mein Körper aussieht und wofür ich mich engagiere – das sind Facetten eines Ichs, die sich vergleichsweise gut modellieren lassen“, sagt der Psychologe Thomas Ellrott.[iii]

Anstatt eigene Entscheidungen zu treffen, schließen wir uns den Entscheidungen anderer an. Anstatt uns abzugrenzen, passen wir uns Erwartungen an. Wir verbiegen uns, anstatt konsequent das zu tun, was für uns ganz persönlich das Richtige wäre – im Zweifel, weil wir nicht einmal wissen, was das ist. Lieber tun wir, was die anderen tun, denn die sind damit schließlich auch erfolgreich – oder behaupten es jedenfalls. Und dann wundern wir uns, wenn es nicht klappt.

 

Der Stein des Anstoßes

Unser Leben ist ein einziger Vergleich – und „Erfolg“ die Währung mit der höchsten Inflationsrate der Welt.

Vergleich fressen Seele auf

Die Erkenntnis, was das ewige Vergleichen mit uns macht, kommt bei jedem zu einem unterschiedlichen Zeitpunkt – und bei manchen nie. Bis es soweit ist, hat die Vergleichssucht sich längst in unsere Seele gefressen und zehrt von unserem Willen: Weil jeder von uns denselben Vergleichen ausgesetzt ist und sozialisiert wird, sich an den gleichen Maßstäben auszurichten, werden wir mit jedem Lebensjahr und jeder Niederlage, ja sogar mit jedem Etappensieg im großen Vergleichsrennen immer gleicher.

Siegen heißt immer auch: Ein Ziel abhaken und Stückchen Willen an den Nagel hängen.

Wenn es dumm kommt, und man schon früh ans Siegen gewöhnt ist, haben wir nicht mehr genug Siegeswillen übrig, wenn es im Leben mal wirklich drauf ankommt. Und wenn es noch dümmer kommt, und man sich schon früh ins leidlich bequeme Schicksal des notorischen Verlierers gefügt hat? Dann hat man irgendwann nicht mehr den Mut sich zu fragen, ob der Vergleich, an dem man das Loser-Etikett festmacht, überhaupt real ist.

Denn was steht denn unter dem Strich der Vergleichsrechnung, wenn die eigenen Enkel irgendwann entrüstet vor unserem Grabstein stehen und feststellen müssen: Der Typ im Grab daneben hat den größeren Stein? Soviel ist sicher: nichts, wofür es sich zu leben gelohnt hätte.

Das bewusste oder unbewusste Leiden am Vergleich in deinem Leben bis heute aber, das kann sich lohnen. Denn mehr als einen Vergleichsschmerz, eine sinnfreie Benchmark zu viel im Genick braucht es nicht, um dem Gleichheitsgesetz der Opportunisten-Gesellschaft den Kampf anzusagen. Vielleicht heute, vielleicht morgen, vielleicht erst im Bestattungsinstitut. Miss dich nicht an mir, denn ich bin niemandes Maßstab und will es nicht sein.

***

Karriere: Der Zirkus der Eitelkeiten

Als Erwachsene glauben wir uns über die hormongesteuerten Raufereien der Teenager-Zeit erhaben. Doch sind wir das? Die Arbeitswelt, die Unternehmenswelt und insbesondere die Corporate-Welt sind Arenen des Wettbewerbs. Karriere lebt von Vergleichen; schon das Wort legt das nahe. Es kommt ursprünglich aus dem Pferdesport, wo es die schnellste Gangart des Pferdes bezeichnet – oder auch die Rennbahn, auf der die Pferde gegeneinander in den Wettbewerb geschickt werden.[iv] Und wir alle wissen, was mit lahmenden Pferden passiert.

In der Personalarbeit bezeichnet Karriere die „betriebliche Stellenfolge einer Person im betrieblichen Stellengefüge“[v] – den eigenen Status im Vergleich zum Status der anderen.

Wir lieben und wir hassen diesen Wettbewerb. In keinem anderen Aspekt unseres Erwachsenenlebens werden wir so gnadenlos an Vergleichbarem gemessen wie bei der Arbeit: Kennzahlen bestimmen unseren Wert. Doch auch zwischenmenschlich vergleichen wir uns nirgends sonst so verbissen wie im Job: Wir hassen den Kollegen, der statt unserer befördert wird. Wir wollen der mit den Top-Sales sein. Wir lieben es, vor den Kollegen gelobt zu werden – Hauptsache besser als der Konkurrent am Schreibtisch nebenan, auch wenn wir nach Feierabend gern ein Bier mit ihm trinken. Die Arbeitswelt ist ein Zirkus der Eitelkeiten, gegen den die Statusraufereien der Teenager-Zeit anmuten wie Kinderkram.

Was wäre, wenn es den Kollegen am Schreibtisch nebenan nicht gäbe? Wie würden wir unseren Wert bestimmen, wenn wir keine Vergleichsmöglichkeiten hätten? Was wären wir als Karrieristen ohne andere Karrieristen, an denen wir uns messen können?
Diesen Fragen auszuweichen ist leicht, denn die Welt der Opportunisten hält uns in ihrer Vergleichslogik gefangen. Doch einer Frage können wir nicht mehr ausweichen, wenn sie uns irgendwann ereilt, scheinbar aus heiterem Himmel: Was wäre, wenn der Wettbewerb uns eines Tages plötzlich nichts mehr bedeutet?

Man muss nicht zum Aussteiger werden, um des Vergleichens müde zu sein. Ich bin nicht der erste, der – ganz oben angekommen – die langersehnte Aussicht vom Gipfel der Corporate-Welt überraschend ernüchternd fand.

 

Der Mann mit der Messlatte

Es gab einen Moment in meiner Corporate-Karriere, als ich buchstäblich von einer Minute auf die nächste vom König des Wettbewerbs zum Wettbewerbsverweigerer mutierte. Der Moment meines größten Triumphs in meiner jungen Karriere wurde zu dem Moment, in dem der Größte zu sein mir zum ersten Mal scheißegal war.
Damals bin ich Vizedirektor eines Grand Hotels in der Karibik, das zu einer der besten und bekanntesten Hotelketten der Welt gehört. Zwei Jahre lang habe ich mich im Dschungel der Kennzahlen und Corporate Monkeys[vi] durchgebissen, gemessen, gesiegt, gefeiert und vor allem gelitten.

Eines Tages findet eine große interne Veranstaltung der Hotelgesellschaft in unserem Haus statt. In einer Pause zwischen zwei Ansprachen von hohen Tieren nimmt mich plötzlich der Vice President der Gesellschaft zur Seite und führt mich mit einem verschwörerischen Lächeln auf den Lippen in einen leeren Konferenzraum. Als er die Tür hinter sich geschlossen hat, dreht er sich zu mir, streckt mir die Hand entgegen und sagt: „Carsten, du hast hier als Vize einen super Job gemacht. Jetzt ist es endlich soweit: Du wirst Hoteldirektor.“

Im ersten Moment bin ich völlig perplex, denn ich habe gar nicht mit der Beförderung gerechnet – jedenfalls noch nicht. Natürlich bin ich außer mir vor Freude, denn schließlich habe ich diesen Moment herbeigesehnt. Wir plaudern noch einige Minuten. Bis mir einfällt, dass der nächste Programmpunkt der Vortrag des CEO der Hotelkette ist – unseres großen Meisters also, dem wir alle dienen. Mit dem habe ich als Vize-Direktor bisher zwar wenig zu tun, denn mein direkter Vorgesetzter ist der Vice President, mit dem ich gerade spreche. Doch der CEO ist natürlich die Leitfigur des Unternehmens. Er ist der, an dem wir uns – mehr oder weniger heimlich – alle messen. Und deshalb auch der, von dem wir alle gelobt werden wollen. Er ist der Maßstab, er macht den Maßstab.

So funktioniert das schließlich in der Corporate-Welt: Wo alle sich miteinander messen, muss es einen geben, der die Urteile fällt. Er ist der Mann – oder die Frau – mit der Messlatte. Nicht umsonst hat der Klassenlehrer früher so gern das Tafellineal geschwungen und auf den Tisch knallen lassen. Um klarzumachen: Hier stehe ich, und wo ich stehe, ist der Messpunkt. Quatschen könnt ihr später, jetzt rede ich. So ist es auch mit dem CEO: Wenn der spricht, wird zugehört. Und wenn man es nicht tut, knallt es.

Unser oberster Befehlshaber ist bereits mitten in seiner Rede, als ich die Tür zum großen Saal öffne und mich unauffällig hinsetzen will, um nicht zu stören. Schwer genug: Immerhin würde ich in diesem Moment gern mit geschwellter Brust über einen roten Teppich nach vorn stolzieren um der Welt – oder wenigstens den 150 Anwesenden Managern – die Neuigkeiten zu verkünden.
Doch der König auf der Bühne scheint zu riechen, dass sich gerade ein anderer königlich fühlt. Als er mich erblickt, bricht er mitten im Satz ab, fixiert mich mit seinem Blick und brüllt ins Mikro: „The one who needs it the fucking most comes the fucking last!“ („Der, der es verdammt noch mal am meisten nötig hat, kommt verdammt noch mal als Letzter!“)
Und das war er – der Moment meiner inneren Kündigung. Unmittelbar nach der ultimativen Beförderung.

 

Scheiß auf den Sieg

Nicht mehr als ein paar Minuten waren nach meiner Berufung zum Direktor vergangen. Der Größte zu sein war ein fantastisches Gefühl gewesen – für die Dauer eines Gute-Laune-Songs im Radio. Ich hatte den Erfolg noch gar nicht verarbeitet, da wurde er mir schon wieder kaputtgemacht.
Und plötzlich war es mir scheißegal.

Natürlich war es nicht das erste Mal, dass ich den CEO der Hotelkette am liebsten auf den Mond geschossen hätte. Und nicht nur ich. Er war gefürchtet für seine Unberechenbarkeit, seine Launen, seine erniedrigende und aufbrausende Art im Umgang mit Mitarbeitern. Doch diese Attacke vor versammelter Mannschaft, die mir meinen großen Triumph vermieste, brachte bei mir das Fass zum Überlaufen.
Wenn das die Siegprämie war – scheiß auf den Sieg. Wenn das der Gipfel war, scheiß auf die Aussicht. Wenn dieser Mann der Maßstab war, scheiß auf den Wettbewerb.

 

Erfolgreich, aber unzufrieden

Von einem Moment auf den nächsten entzog ich mich dem Wettbewerb und warf sämtliche Ambitionen in diesem Unternehmen aus dem Fenster im obersten Stockwerk. Die logische Folge nach dem Direktorenposten wäre irgendwann ein noch höherer Posten innerhalb der Organisation gewesen, und wer weiß … Doch von einer Sekunde auf die nächste hatte ich daran kein Interesse mehr. Natürlich arbeitete ich noch eine Zeitlang als Direktor. Diese Station in meinem Lebenslauf auszulassen, wäre sogar für einen Wettbewerbsverweigerer dämlich gewesen. Immerhin war es ein wertvolles Sprungbrett für alles, was ich nach meiner Zeit als Corporate Monkey vorhaben würde. Doch ich bewarb mich weg, so schnell es ging, und kehrte dem Unternehmen dem Rücken. Und Jahre später auch der Corporate-Welt im Großen und Ganzen.
Das Leiden unter den sinnfreien, egomanischen, selbst eines Teenagers unwürdigen Vergleichskämpfen der Corporate Monkeys hatte zu diesem Zeitpunkt schon lange in mir rumort. In diesem Moment fiel die Entscheidung, mich diesem Wettbewerb zu entziehen – so schnell wie möglich und ein- für allemal.
Der Wettbewerb hatte mich zugleich erfolgreich gemacht – und unzufrieden. Ich wollte nicht zulassen, dass er mich am Ende auch noch unglücklich machte.

***

 

Vergleichskollaps

Nun stellt sich natürlich die Frage: Was kommt nach dem Abschied vom Wettbewerb? Kann man erfolgreich sein, ohne sich zu messen? Kann man der Größte sein, ohne dass ein Anderer sich klein fühlt?

Gegenfrage: Warum sollte man überhaupt der Größte sein müssen, um erfolgreich zu sein? Warum muss man andere kleiner machen, um sich selbst erfolgreich zu fühlen? Und was ist Erfolg wert, wenn er sich an anderen bemisst anstatt an mir selbst?
Wenn es Ihnen irgendwann ergeht wie mir, ist der ganze mühsam erkämpfte Erfolg irgendwann vielleicht von einem Moment auf den nächsten wertlos. Der plötzliche Vergleichskollaps kann jederzeit eintreten, wenn wir Wettbewerb als Vergleich von Äußerlichkeiten betreiben.

Und genau das tun wir im Alltag ständig, oft ohne dass es uns bewusst wäre: Wir kämpfen eine Schlacht der Eitelkeiten, in der es ums Gewinnen geht und nicht um ein sinnhaftes Ziel. Wollen wir denn wirklich der mit den Top-Sales sein und diesen Titel dann Quartal für Quartal verteidigen müssen, oder wollen wir nur gewinnen? Wollen wir wirklich Top-Manager sein und nur noch an den Feiertagen Zeit für Familie und Hobbys haben, oder wollen wir nur den Sieg? Ist Anwalt wirklich der bessere Beruf als Ski-Animateur, oder plappern wir das nur unseren Eltern nach?
Wollen wir uns wirklich auf diese Weise vergleichen, oder sind wir einfach nur im Wettbewerb gefangen? Wollen wir wirklich besser sein, oder einfach nur gleicher? Rennen wir wirklich auf ein Ziel zu, oder nur den Zielen anderer hinterher, und nennen es Wettbewerb?

Und was ist, wenn das große Vergleichsziel vor unseren Augen zu Staub zerfällt? Was, wenn der Traumjob uns für immer verbaut ist? Was, wenn wir als Verkäufer einfach nicht aggressiv genug sind, um der mit den Top-Sales zu werden? Was, wenn eine Verletzung die sportlichen Ziele begräbt? Was dann? Aufgeben, aussteigen, umbringen?

Gehen wir noch einen Gedankenschritt weiter: Was, wenn wir das große Vergleichsziel erreicht haben? Manche schaffen das dank großem Ehrgeiz sogar schon in jungen Jahren. Welchem Maßstab folgst du, wenn du schon der größte bist und es keinen mehr gibt, an dem du dich nach oben orientieren könntest, aber noch ein paar Jahre oder Jahrzehnte Schaffenskraft vor dir hast? Was dann? Aufgeben, aussteigen, umbringen?

Lass uns noch einen Gedankensprung machen, um den Dreischritt zum Vergleichskollaps zu komplettieren: Was, wenn der Wettbewerb, auf den du dein ganzes Leben ausgerichtet hast, dir plötzlich nichts mehr wert ist? Woran misst du dich dann? Wie bestimmst du deinen Wert, wenn es keinen Mann oder keine Frau mit der Messlatte mehr gibt, der oder die dir das Urteilen abnimmt? Wer bist du dann?

 

Der asoziale Wettbewerb

Eine Einschränkung ist an dieser Stelle notwendig: Ich spreche nicht von Wettbewerben, in die sie freiwillig aus der Motivation heraus gehen, ihre Leistungen mit anderen messen zu wollen. Ich spreche nicht vom gesunden Wettbewerb der Unternehmen innerhalb einer Branche, nicht vom sportlichen Wettbewerb, dem Menschen sich aus Leidenschaft widmen, nicht dem Wettbewerb um wichtige wissenschaftliche Errungenschaften unter Forschern, die die Welt mit ihrer Arbeit besser machen wollen.

Ich spreche von dem Wettbewerb, der dazu führt, dass Menschen sich anpassen. Bei dem es nicht um die Sache geht, sondern ums Vergleichen selbst, also: ums Ego. Ich nenne ihn: den ‚asozialen Wettbewerb‘.

Jeder von uns kann im Laufe seines Lebens einen Vergleichskollaps erleben wie ich an jenem Tag in der Karibik. Wie würde unsere Welt wohl aussehen, wenn wir alle von einem Tag auf den nächsten feststellen, dass wir diese Art des Wettbewerbs einfach nicht nötig haben? Was, wenn Wettbewerb ist, und keiner geht hin?

 

Ist es Erfolg, wenn keiner davon weiß?

Nun könnten Sie natürlich einwenden: Ohne einen Leitstern vor Augen, an dem wir uns messen können, sind wir nutzlose Fleischsäcke, die die Atmosphäre unnötig mit Kohlendioxid belasten. Und da würde ich Ihnen zustimmen. Mir geht es nicht um den Ehrgeiz etwas zu erreichen; mir geht es um den Maßstab, den wir dabei anlegen. Und zum Wettbewerb der Eitelkeiten, an den wir alle einen mehr oder weniger großen Teil unserer Lebenszeit verschwenden, gibt es sehr wohl Alternativen. Man kann durchaus erfolgreich sein, ohne dass es dafür den Vergleich mit dem Erfolg anderer bräuchte. Für manche Erfolge gibt es ganz einfach keinen Maßstab – und deshalb auch keinen Applaus.

Aber ist es denn kein Erfolg, wenn niemand klatscht?

Es gibt Menschen, die sehr erfolgreich sind und sich auch sehr erfolgreich fühlen, ohne dass die ganze Welt davon wüsste. Einer davon ist ein alter Freund und Wegbegleiter – nennen wir ihn Timmy.
Timmy war einmal deutscher Fußball-Nationalspieler. Er hat den Rausch des Erfolgs und den Jubel des Publikums also früh kennengelernt und erreicht, was nur sehr wenigen Menschen gelingt. Nach dem Ende seiner aktiven Zeit als Spieler wollte er – wie viele ehemalige Profi-Fußballer – seinen internationalen Trainerschein machen, um künftig Fußballclubs trainieren zu können.

Der DFB bietet ehemaligen Nationalspielern eine Abkürzung zu dieser Qualifikation an: Sie können schneller und einfacher ihren Trainerschein machen als jemand, der nie auf diesem Niveau gespielt hat. Eine sinnvolle Einrichtung, denn die Trainerausbildung auf Profi-Niveau dauert ein Jahr. Ein Jahr, in dem dem deutschen Fußball die Erfahrung und das Know-how eines Leistungsträgers vorenthalten bliebe.

Doch es gibt einen Haken: Um diese Abkürzung nehmen zu können, muss man eine bestimmte Anzahl von Einsätzen als Nationalspieler vorweisen können. Und Timmy lag knapp unter der Benchmark und wurde abgelehnt – obwohl mehrere, denen diese „Freikarte“ angeboten wurde, den Lehrgang nicht in Anspruch nahmen. Auch der reguläre Lehrgang wurde ihm verwehrt, da er die A-Lizenz nicht für zwölf, sondern nur für elf Monate hatte. Timmy schaute also trotz ernsthafter Ambitionen in die Röhre.
Viele würden in einer solchen Situation einfach frustriert aufgeben. Nicht so Timmy: Er machte seinen Trainerschein in Kiew. Und dafür lernte er extra Ukrainisch. Bei so viel Zielstrebigkeit und Leidensbereitschaft wird es niemanden überraschen, dass Timmy heute tatsächlich als Profi-Trainer arbeitet.

 

Doch sein größter Erfolg ist einer, von dem fast niemand weiß: Timmy hat sich über die Karriere-Grenzen hinweggesetzt, die ihm das Regelwerk der Vergleichs-Maschinerie auferlegt hat, und hat sein persönliches Ziel auf seine Weise erreicht. Und mit dem Trainerschein ist es wie mit vielen Zeugnissen im Leben, auf die wir Kraft und Energie verwenden: Wenn man sie einmal hat, kräht kein Hahn mehr danach wann, wo und mit welcher Note man sie erlangt hat. Der Vergleich wird obsolet, wenn er einmal bewältigt ist. Der große Erfolg nach Regelwerk ist nur noch ein Papiertiger.

Den Erfolg Grenzen überwunden zu haben aber kann Timmy niemand mehr nehmen. Der Mut, die Willenskraft und die Ausdauer, die diesen Erfolg ermöglicht haben, tragen im Gegensatz zu einem Stück Papier über die Zielerreichung hinaus. Denn sie prägen und zeichnen den Menschen aus, der den Erfolg erlangt hat. Sie machen ihn stark, auch wenn niemand klatscht.
Wer diese Art von Erfolg hat, braucht keinen Applaus.

 

Am Wettbewerb vorbei führt auch ein Weg

Es gibt auch Menschen, die genau das Gegenteil von dem tun, was Eltern, Konkurrenten oder die Welt im Großen und Ganzen von ihnen erwarten – und trotzdem erfolgreich geworden sind. Oder vielleicht auch genau deswegen.
Einer dieser Menschen ist ein anderer alter Freund: der Unternehmer Gerrit Niehaus. Die wenigsten mögen seinen Namen kennen – und wenn, dann eher aus seiner Zeit als Mäzen des Frankfurter Fußballs. Doch jeder ist ständig mit seinem größten Erfolg konfrontiert; im Zweifel erst gestern oder heute.

Gerrit machte in den Siebzigerjahren eine Lehre zum Marketing-Kaufmann. Aus heutiger Sicht klingt das nach einer standardmäßigen Karriere-Entscheidung – kopfüber in den Wettbewerbs-Mainstream hinein. Damals war es das Gegenteil. Marketing galt zu dieser Zeit in Deutschland noch als verpönt. Als Marketing-Fachmann war man quasi Konsumnutte mit Abschluss. Eine Karriere, von der mein Vater damals wohl noch weniger begeistert gewesen wäre als von meiner Ausbildung zum Kellner im Hochschwarzwald.

Doch Gerrit setzte sich über alle Vorurteile von Familie und Freunden hinweg. Er glaubte fest an die Zukunft des modernen Marketings in allen Bereichen des Handels. Vorbei am Wettbewerb der typischen Siebzigerjahre-Erfolgsmenschen-Karrieren als Banker, Anwalt, Arzt suchte er sich eine Nische, in der kaum jemand eine Zukunft sah, und wurde Marketingspezialist im Bereich Lebensmittel.

Nach Abschluss seiner Ausbildung analysierte Gerrit als einer der ersten in Deutschland das Einkaufsverhalten der Kunden in Supermärkten und Kaufhäusern. Auch heute noch, mehr als 50 Jahre später, gelten die in den Siebzigerjahren erforschten Erkenntnisse der Artikelplatzierungen in Supermärkten und Kaufhäusern.
Internationale Firmen in den USA, Italien, Ungarn, Griechenland und Deutschland nahmen Gerrits Expertise gern in Anspruch, um im deutschen Handel präsent zu werden.

Noch ein weiteres Mal hat Gerrit sich seinen eigenen Markt erschaffen, anstatt sich der Vergleichsmaschinerie eines bestehenden Marktes zu unterwerfen. Gerrit gründete die Firma Krone Fisch und brachte – unter Zuhilfenahme der modernsten Ausstattungen aus dem Feld der Corporate Identity – ein Sortiment von Fischfeinkostdelikatessen auf den Markt, das sofort ein großer Erfolg wurde. Noch heute gibt es Krone Fisch in tausenden Supermärkten.

Bei einer Geschäftsreise in die USA erkannte Gerrit das enorme Potenzial für den Export deutscher Produkte nach Amerika und amerikanischer Produkte nach Deutschland. Unmittelbar gründete er Krone Amerika. Schon sechs Monate später gab es deutsche Produkte in über 600 amerikanischen Supermärkten zu kaufen. Als Logo diente das Heidelberger Schloss – mit dem Claim: „Grandma’s Recipes from Old Germany“. Bei der Werbung halfen amerikanische Studentinnen in deutschen Dirndln. Nach zwei Jahren wurden bereits Waren im Wert von über 10 Millionen Dollar umgesetzt.

Gerrit ist mit seinen unorthodoxen Geschäftsideen, auf der Überholspur am Wettbewerb vorbei, nicht unvermögend geblieben, wie Sie sich vorstellen können. Heute genießt er im Thai Garden Resort, einem 26.000 Quadratmeter großen Resort-Hotel in Pattaya, seinen Ruhestand. Auch das hat er natürlich selbst gebaut, eröffnet und geführt. Einfach als Rentner auswandern kann ja jeder.

 

Die Macht der Masse

Die Geschichten außergewöhnlicher Menschen zeigen: Es ist durchaus möglich, anders erfolgreich zu sein. Und es ist keineswegs unmöglich, sich dem Wettbewerb und der gesellschaftlich vorgegebenen Vergleichs-Logik zu entziehen.
Was natürlich die Frage aufwirft: Warum gelingt es den meisten Menschen eben nicht, sich im Kopf und im Leben unabhängig zu machen? Warum lassen wir uns viele Jahre oder auch ein Leben lang freiwillig durch die Vergleichs-Folter prügeln, obwohl sie nur in die Gleichförmigkeit führt? Warum tun wir uns das an? Warum fragen wir uns so selten: Brauche ich das?

Die Antwort ist die Macht der sozialen Gruppe. Soziale Prägungen sind stark – aus dieser Falle entkommt man nicht so leicht. Den meisten Menschen ist nicht einmal bewusst, dass sie das Leben der Anderen leben. Überall sind wir umzingelt von Menschen und Unternehmen, die alle demselben goldenen Kalb hinterherjagen. Sich dem alles vereinnahmenden asozialen Wettbewerb zu entziehen, setzt große Willenskraft voraus – im stressigen Alltag eher eine Zusatzbelastung als eine Erleichterung.

 

Eine neue Sicht auf Erfolg: Man verändert die Welt nicht, wenn man sich anpasst

Erfolg ist nicht die Kunst des Vergleichens, sondern die Kunst des Polarisierens. Er erwächst aus dem Mut, sich dem Vergleich zu entziehen, sich seine eigenen Maßstäbe zu setzen – und auszuhalten, dass wir es damit nicht jedem recht machen. Solange wir unser Leben an den Erwartungen anderer, dem Faktor Sicherheit und der Bequemlichkeit gewohnter Entscheidungen ausrichten, können wir nur so erfolgreich sein, wie die Welt der Opportunisten uns sein lässt.

Es ist völlig okay, damit zufrieden zu sein. Wer sagt denn, dass wir alle der nächste Steve Jobs sein müssten? Ganz ehrlich: Ich hätte nicht mit ihm tauschen wollen. Wenn wir plötzlich alle die Größten sein müssen – wer soll denn dann noch zu uns aufschauen? Gerade die Beispiele von Menschen, die sich den Erfolgsmantren anderer entziehen und sich darüber hinwegsetzen, was von ihnen erwartet wird, zeigen: Erfolg und Zufriedenheit sind eben nicht dasselbe.

 

Es gibt nicht die eine Definition von Erfolg – vielmehr sollte es so viele geben, wie es Menschen gibt. Gerrit hat keinen Applaus dafür bekommen, dass er sich für die Ausbildung zum Marketing-Kaufmann entschied. Timmy hat reichlich Irritation dafür geerntet, dass er für seinen Traum kurzerhand in die Ukraine zog. Ich wurde von der Mehrzahl meiner Kollegen für bekloppt erklärt, als ich meinen Job als Direktor bei einer der besten Hotelgesellschaften der Welt kündigte und weiterzog, obwohl die nächste Beförderung innerhalb der Organisation nur eine Frage der Zeit war.

 

Man verändert die Welt nicht, indem man sich ihr anpasst. Man bricht aus der Welt der Opportunisten nicht aus, indem man den Opportunisten folgt. Man kann niemanden überraschen, indem man es ihm recht macht. Man kann nicht gestalten, indem man nach Zahlen malt. Man wird nie erfolgreich sein, wenn man sich von anderen vorgeben lässt, was das bedeutet.

 

Was jene Menschen gemeinsam haben, die wir gemeinhin als „erfolgreich“ bezeichnen, ist nicht ihr Erfolg – denn der sieht von Fall zu Fall sehr unterschiedlich aus. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie mit sich im Reinen sind.

 

Der einzige Vergleich, der zählt

In Wahrheit gibt es nur einen einzigen Menschen auf der Welt, mit dem jeder von uns im Wettbewerb steht: wir selbst.

Erfolg ist der Weg von dem, zu dem wir uns im Rattenrennen des Vergleichens haben machen lassen – zu dem, der wir sein könnten, wenn es keine Vergleichsmaßstäbe gäbe. Letztlich ist „erfolgreich“ zu sein genauso unwichtig wie „anders“ zu sein. Wir müssen nicht der Beste sein; aber wir können unvergleichlich sein.
Das einzige, was zählt ist: sich selbst jeden Tag zu überwinden. Dazu gehört auch, die Summe der Prägungen zu überwinden, die uns bremsen – und gleichzeitig jene dankbar anzunehmen, die uns stärken.

Doch dafür muss man sich selbst erst einmal annehmen – jenseits aller Vergleiche. Das ist unbequem – denn es heißt, alle Maßstäbe in den Wind zu schießen. Das Vergleichs-Ich hinter sich zu lassen; das eigene ‚Wicht-Ich‘ und die der anderen nicht mehr so wichtig zu nehmen.
Und das hat uns niemand beigebracht. Doch wenn es gelingt: Freiheit. Innere und äußere.

***

Das Geschenk der Unsichtbarkeit

Howard Wakefield, ein Mann mittleren Alters, hockt mit einem Fernglas hinter einem schmutzigen Fenster und blickt auf die Welt. Sein Haar ist lang und zerzaust, seine Kleidung verwahrlost, er sieht aus wie ein Obdachloser. Und irgendwie ist er das auch. Nur sein Blick ist klar, wenn er seine schöne Frau, die gemeinsamen Töchter, das schicke Haus in einem Vorort von New York City und den Mercedes in der Einfahrt von oben betrachtet.

 

Von oben, obwohl er emotional ganz unten ist: Der gleichzeitig übersättigte und überforderte Howard ist ausgebrochen. Er hat sich einfach unsichtbar gemacht. Von einer Sekunde auf die nächste hat er sein Bilderbuch-Leben als erfolgreicher Anwalt an den Nagel gehängt und versteckt sich seither in einem Lagerraum über der Garage. Vor der Welt, vor seiner Karriere, vor seiner Familie, vor dem asozialen Wettbewerb. Er hat niemanden gewarnt, kein Lebenszeichen hinterlassen, ist einfach verschwunden.
Und so beobachtet er die Welt und das Leben – sein Leben – aus dem Verborgenen und sieht tagein, tagaus dabei zu, wie es sich langsam aber sicher auflöst. Sogar seine eigene Trauerfeier beobachtet er – mit geradezu kindlichem Vergnügen. Er beobachtet andere, doch er wird dabei zum Voyeur seiner selbst.

 

Der Hollywood-Film „Wakefield“, der auf einer Kurzgeschichte von E. L. Doctorow beruht, zeigt, was der asoziale Wettbewerb mit Menschen macht – und wie sich unser ganzer Lebensentwurf zersetzt, wenn wir uns radikal allen Vergleichen entziehen. Der Film überlässt viele Antworten dem Zuschauer: Darf man das? Ist es möglich, sich unsichtbar zu machen? Wird die Welt auf uns warten? Kann man zurückkehren in die Sichtbarkeit? Wird der ‚Erfolg‘ noch da sein? Und wenn man zurückkehrt, wird man wieder aufgenommen ins alte Leben, in den Wettbewerb?
Nur eines steht am Ende des Films außer Frage: Die Erfahrung unsichtbar zu sein verändert alles, für immer.

 

Mönche füttern: Auszeit vom Wettbewerb

Deshalb breche auch ich regelmäßig aus. Eine Flucht von Wakefield’schen Ausmaßen traue ich mir nicht zu. Wir haben uns das Vergleichs-Universum nicht ausgesucht, aber wir leben darin. Wir sollten nur sorgsam damit umgehen, welchen Wettbewerb wir uns aussuchen. Das ist eine Wahl, die jeder für sich treffen kann, wenn er den Mut hat zu polarisieren. Und sei es erst einmal nur für einen Tag, eine Woche, einen ganzen Urlaub.

Wenn es bei mir mal wieder soweit ist, dass ich nicht mehr klar sehe, klar denke und ja, auch klar messe, dann gehe ich weg. Weit weg. Nach Bali, wo es eine Insel der Toten gibt, die ganz offen an Steine und Bäume gelehnt vor sich hin verrotten. Oder zum Yoga nach Ubud. Oder um die Mönche in Laos zu füttern, die dort allmorgendlich ihre Runde drehen und von den Einwohnern mit einer Handvoll Nahrung versorgt werden. Es ist ein Ritual, das mich Demut lehrt: denen zu Diensten zu sein, deren höchstes Ziel es ist, sich vom Ego zu lösen und nichts zu begehren.

An diesen Orten kann ich mich wunderbar unsichtbar machen, denn dort kennt mich niemand. Niemand misst mich an externen Maßstäben, denn niemanden interessiert meine Erfolgs- oder Fehlerquote. Für eine Weile darf ich dort einfach nicht existieren, wenn ich es so möchte.

In diese Unsichtbarkeits-Sabbaticals nehme ich eine Reihe von Fragen mit. Sie sind das einzige, dem ich mich stelle, solange ich unsichtbar bin. Sie sind herausfordernder, aber auch berauschender als jeder oberflächliche Erfolg, für den wir uns im Alltag feiern lassen.

• Was hast du am meisten vermisst?
• An wen hast du am häufigsten gedacht?
• Was hast du seit langer Zeit zum ersten Mal wieder getan?
• In welchen Momenten warst du froh unbeobachtet zu sein?
• Welches Erlebnis hättest du gern mit anderen geteilt?
• Welche Verbindlichkeiten warst du froh los zu sein?
• Wen warst du froh nicht sehen zu müssen?
• Was hättest du gern getan, das nicht möglich war?
• In welchem Moment warst du am zufriedensten?
• Hast du mehr gelacht oder geweint als sonst?
• Wann warst du von dir selbst überrascht?
• Wann hast du dich auf frischer Tat beim Urteilen ertappt?
• Was waren in der Isolation deine Prioritäten – und wieviel Priorität haben diese Dinge in deinem Alltag?

 

Ich werde dir nicht verraten, welche Antworten ich auf diese Fragen finde, wenn ich unsichtbar bin. Meine Unsichtbarkeit ist mir heilig. Aber ich empfehle sie zur Nachahmung. Und soviel verrate ich: Beim letzten Sabbatical auf Bali ist die Idee zu diesem Buch entstanden.

Mach dich mal unsichtbar. Für einen Tag, für eine Woche, für einen Monat. Denn das ist möglich. Schon ein einziger Tag der Unsichtbarkeit kann viel verändern, manchmal alles. Schalte das Handy ab. Nimm nur das Allernötigste mit. Reise in eine Einöde, wo niemand dich kennt, niemand dich vermutet und du niemandem wichtig bist, außer dir selbst. An einen menschenleeren Strand auf einer Hallig, zum Beispiel. Zu den Mönchen nach Laos, wenn du magst. Oder nach Bottrop am Fastnachtsdienstag. Mach keine Pläne. Tu vor allem nichts von dem, was du sonst tun würdest.

Beobachte, was mit dir passiert, wenn du unsichtbar bist. Wenn nichts wichtig ist, was sonst die Welt bedeutet. Wenn niemand da ist, an dem du dich messen könntest.
Und dann lass alles dort, was du nicht mehr brauchst. Alle Erfolge, alle Niederlagen, alle überflüssigen Gedanken. Bring stattdessen mit, was verschollen war und nun wieder aufgetaucht ist – was auch immer das sein mag. Bring so viel wie möglich von dem Menschen mit zurück, der du jenseits aller Vergleiche bist.
Denn das ist der einzige Mensch, an dem zu messen sich wirklich lohnt.

Der Stein des Anstoßes: Was würde ich tun, wenn ich unsichtbar wäre und kein Urteil fürchten müsste – außer meinem eigenen?

 

 

 

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