Buchauszug Frank Wilmes: „Mach` doch, was du willst: Und schau mal, was Trau-Dich-Typen dazu sagen“

Buchauszug Frank Wilmes; „Mach` doch, was du willst: Und schau mal, was Trau-Dich-Typen dazu sagen.“

 

Frank Wilmes (Foto: Presse)

 

 

3. Die Anpassung passt nicht

Mit Tippelschritten erreichen wir keine grundlegenden Veränderungen. Wer nicht springt, der kommt nicht weit. Revolution geht nur mit Typen, die das Feuer des Aufbruchs in sich verspüren, um sich aus der Tragöde der Langeweile und Sinnlosigkeit zu befreien. Sie werfen einen Farbklecks in die graue Masse. Wer nur auf das Machbare schaut und keine Träume hat, behindert seinen Aufbruch. Denn wohin wollen wir aufbrechen, wenn der Pragmatismus alle Träume zerstört? Es ist der Traum, der uns ahnen lässt, was alles möglich ist.

 

3.1. Modernität: Laune des Zeitgeistes

Wenn ich dich frage, ob du modern bist, wirst du wahrscheinlich spontan mit „ja“ antworten, denn wer will schon als unmodern oder altmodisch gelten.

Modern zu sein bedeutet, auf der Höhe der Zeit zu sein, es bedeutet Offenheit, Verständnis und freies Denken – alles wunderbare Attribute, die uns gut zu Gesicht stehen. Außerdem hat das Modernsein so etwas Schickes und Internationales. Bin ich modern, wenn ich mein Landhaus verkaufe und in eine schicke Penthouse-Wohnung ziehe? An der Modernität kleben Bilder, die unsere Wahrnehmungen und Sichtweisen spiegeln – eine höchst subjektive Angelegenheit: Das Bild von aufgeschlossenen und neugierigen Menschen: Ich bin super tolerant und freue mich schon auf meinen
Wandertrip durch Nigeria.

Das Bild von Menschen, die sich vom Massengeschmack abgrenzen. Ich trage ja so gerne das schwarze Chanel-Kleid meiner Großmutter, kombiniert mit dem kunterbunten Hippieschal meiner Mutter.

Das Bild von Menschen, die auch mal etwas wagen. Mein Job ist pure Langeweile, jetzt muss etwas passieren, ich mache nebenbei einen Kiosk in meinem supercoolen Viertel auf.

Alles nur Bilder, klar. Kopfkino.

Ein Ritt zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Der Betrachter mag entscheiden, was er in den Bildern (Klischees?) sieht oder sehen möchte. Für den modernen Menschen ist die Sache jedenfalls absolut klar: Sein Bild zeigt ihn als Triumphator über die läppischen, altbackenen und hinterwäldlerischen Dinge des Lebens. Und das ist nur noch nervig.
Ständig belehren uns die modernen Menschen, wie was sein muss und was gerade mal wieder „in“ ist.

„Was, du hast das Buch noch nicht gelesen!“

„Nein, das steht dir gar nicht!“

„Mein Gott, Dubai ist mega-out, du musst unbedingt nach Ibiza, da geht die Post ab, wie früher!“

Der „moderne“ Mensch offenbart sich in seinem Anderssein ständig wie das Chamäleon, das seine Farben wechselt, um sich mitzuteilen und aufzufallen. Im Sauseschritt blitzt er durch seine Zeit, er saugt sich mit allem Neuen voll, um ja
nichts zu verpassen. Er weiß genau, wo sein Platz ist: Ich da oben, du da unten. Da oben ist der Vorwärtsgang des Lebens, da unten der Rückwärtsgang des Lebens.

Da unten also: Der „unmoderne“ Mensch scheint auf einer niedrigeren ntwicklungsstufe stecken geblieben zu sein. Hey, „en vogue“ ist der ultimative Zustand des Super-In-Seins, mehr geht nicht mehr. Kapiert?

Nein, ich kapiere es nicht. Und jetzt wird es ein bisschen kompliziert:

Der „moderne“ Mensch glaubt, er ist „in“ – und das ist ein großer Irrtum. Er ist „out“, weil er nur einem Trend folgt statt ihn zu prägen. Genau darin liegt auch der Unterschied
zwischen Modernität und Avantgarde. Es sind nicht die „modernen “Menschen, sondern die Avantgardisten, die ihre Individualität auf die Spitze treiben, um Neues zu entdecken.

Wenn viele Menschen einem Trend folgen, uniformieren sie sich damit. Eine Uniform druckt aber keine Individualität aus. Wenn also die Oberschichtdamen in einer Stadt schwerpunktmäßig Dior, Gucci oder Chanel tragen, mag das schick aussehen, aber das macht sie nicht „moderner“. Das gleiche gilt für die Jugendkultur.

Bedenke:

„In“ bist du, wenn du anders bist.
„In“ bist du, wenn du neue Dimensionen eröffnest.
„In“ bist du, wenn du dich vom Rhythmus der Moden, Launen
und Stimmungen scharf abgrenzt.

Der „moderne“ Mensch lebt dagegen in und mit seiner Zeit. Der Avantgardist geht über diese Zeit hinaus und ist damit in gewisser Weise zeitlos. Es verhält sich wie mit Kunst und Mode. Der große avantgardistische Künstler schafft mit seinem Wirken ein zeitloses Werk. Der moderne Modedesigner dient der Gegenwart und denkt immer nur von Saison zu Saison. Genau betrachtet, kopiert die Modernität den Zeitgeist und päppelt ihn mit ein paar hübschen Extravaganzen auf:

➽➽ Der Zeitgeist ist eine sozio-kulturelle Durchschnittsgröße. Sie zeigt den Menschen das aktuelle Denken, Fühlen und Machen in der Gesellschaft.

➽➽ Der Zeitgeist ist weder exklusiv noch elitär. Er ist ganz banal eine Massenveranstaltung der Gegenwartskultur. Er schafft kaum Differenzierung, bedient stattdessen sehr viele Menschen gleichzeitig.

➽➽ Der Zeitgeist verpflichtet die Menschen zu einem bestimmten Modernsein.
Einen Trend zu übernehmen, schafft allerdings nur einen Zeitvorsprung für das
Modernsein. Der Trend ist eine Animation, mehr nicht. Schaut her, das ist neu, kommt mit, macht mit, seid dabei.

Der Zeitgeist ist ein launischer Geselle, der dich ständig verführt. Ehe du angekommen bist, ist der Zeitgeist, wie der Igel in der Fabel, schon weiter. Du musst dich beeilen, um mitzukommen, aber der Zeitgeist ist schon wieder weiter. Das hört nie auf. Schrecklich.

Der Zeitgeist stiftet permanent Unruhe. Der Wandel lebt quasi in uns. Er drängt uns und löst innere Kämpfe aus. Es gibt aber zum Glück keine ernst zu nehmende Deutungshoheit, wer modern oder unmodern ist.

Gehen wir doch einfach mit offenen Augen durch das Leben und ziehen daraus die richtigen Schlüsse für unsere Selbstentfaltung.

Schau dir nur einmal Manager an, die mit ihrem Wahn, modern sein wollen, dem Unternehmen große Schwierigkeiten bereiten. Sie laufen Trends und Stimmungen
aktionistisch hinterher, statt sie selbst zu initiieren. Wer sich so verändert, der verändert gar nichts. Der versteht nicht, was Veränderung bedeutet und wie sich Veränderung abspielt.

Kein Unternehmer kann den Erfolg erzwingen, weil sich der Kunde nicht zwingen lässt. Trotzdem arbeiten sich jeden Tag viele Manager daran ab, das Gegenteil zu beweisen. Sie wollen den Kunden quasi zu seinem Glück zwingen. Aber daraus entsteht nur Chaos aus ungezügelter Kreativität, Eitelkeit und ständigen Strategiewechseln. Das ist Chaosmanagement. Chaos ist keine Methode, um Ordnung in Gedanken und
Strategien zu bekommen.

Diese Chaos-Manager überschwemmen den Markt mit neuen Packungsgrößen, Promotions- und Saisonartikeln. Doch die meisten dieser Artikel überstehen nicht einmal das erste Jahr. Damit verbunden ist eine gigantische Kapitalvernichtung
und eine Verstopfung des Marktes mit unproduktiven Produkten.

 

Frank Wilmes: „Mach` doch, was du willst: Und schau mal, was Trau-Dich-Typen dazu sagen“ 136 Seiten, 13,80 Euro, Independently published 

https://www.amazon.de/Mach%60-doch-was-willst-Trau-Dich-Typen/dp/1717794351/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1536361900&sr=1-1&keywords=frank+wilmes

 

 

3.2. Tradition: Kleiner Diktator

Wenn ich dich frage, was du von Tradition hältst, wirst du dich wahrscheinlich lobend äußern. Gegen Tradition zu sein, hat etwas Hässliches, als wurden wir das Gute und Edle unserer Vorgängergenerationen beiseiteschieben, Oma und Opa verraten und noch schlimmer: keinen Respekt vor der Geschichte haben.

Ja, es stimmt. Tradition hat ein verdammt gutes Image. Es ist tatsächlich wunderbar, die Vergangenheit mit der Gegenwart zu verbinden mit all ihren Sitten, Bräuchen und Kulturen.Das gibt uns das gute Gefühl, einen Sinn für Werte zu haben, die uns Orientierung geben.

Außerdem verhindert die Tradition, dass sich der Einzelne zu wichtig nimmt.
Denn gegen das große Ganze von gestern bis heute wirkt der Mensch wie ein Menschlein, als stünde es neben einem Wolkenkratzer. Je höher es schaut, desto weniger sieht es – und staunt über das Machwerk

Aber nach dem Staunen kommt das Ahnen. Was denke und fühle ich da eigentlich? Wohin zieht mich dieses Denken und Fühlen? Will ich das?

Mal ehrlich: Die Tradition hat ein massives Problem. Sie zeigt nicht, wie sich etwas verändert. Sie verhindert eine Veränderung. Sie offenbart die Idee aus einer Vergangenheit, aber nicht die eigene Erfahrung.

Wir können aus der Geschichte lernen, aber nicht von einer Tradition. Während die Geschichte eine abgeschlossene Zeit beschreibt, wirkt die Tradition weiter. Sie funktioniert wie eine Filtertüte. Mit dem ersten Kaffee, der durch diese Filtertüte
tröpfelt, erhalten wie den Kaffee mit seinem vollständigen Aroma. Mit jedem weiteren Kaffee, der durch diese Filtertüte läuft, verdünnt sich der Geschmack. Schmeckt dieser Kaffee eigentlich noch?

Wir tun so, als wurde er schmecken. Wir wollen einen Geschmack bewahren, wie er sich mit dem ersten Aufguss des Kaffees offenbart hat, aber wir kennen diesen ursprünglichen Geschmack überhaupt nicht.

Das Wörtchen „bewahren“ vermittelt einen seltsamen Glanz aus Ehrfurcht und Entzückung, als wurden wir vorsichtig eine Schatztruhe öffnen, um etwas Geheimnisvolles entdecken. Und was sehen wir in dieser Truhe? Viele Worte mit einer
heilsversprechenden Überhöhung, als dringe jetzt das Gute hervor.

Deshalb sagen Unternehmer so gerne, dass sie sich der Tradition verpflichtet fühlen, um den Kunden damit das gute Gefühl einer vererbten Fürsorge zu geben. Es hört sich halt gut an, wenn eine Firma von den guten alten Werten spricht, was auch immer das bedeuten mag.

Dazu gehört auch die Sitte, dass Geschäfte mit einem Firmen-Jubiläum werben. Uns gibt es schon 25, 50 oder 75 Jahre. Na und? Eine Jahreszahl ist nur eine Zahl, sie sagt nichts über Qualität und Kundennähe aus. Ein Möbelhaus hat mit einer „110-jährigen Möbeltradition“ geworben und aus diesem Anlasse viele Superangebote gemacht. Die Kunden sollten vertrauensbildend glauben, es handele sich hier um ein Familienunternehmen, das seine Kompetenz von Generation zu Generation weitergibt.
Weil das aber nicht stimmte, hat das Oberlandesgericht Oldenburg diese Werbung verboten.

Ach, die Tradition! Sie hat ein übersteigertes Selbstbewusstsein. Ihr ist nichts peinlich. Sie lebt von legendenhaften Überlieferungen, Übertreibungen und einem diffusen Überschwang. Sie beschönigt, verdrängt, konstruiert Irrtümer und Einbildungen.
Sie lügt: „Früher war alles besser“!

 

Die Tradition – ein Fall für den Psychiater.

Seien wir ehrlich: Die Tradition ist ein Psychomonster. Es schleicht sich in unser Leben ein, und wir bemerken zunächst gar nicht, wie es unser Denken und Handeln einnimmt. Es verleitet uns zu einem Automatismus, Dinge zu tun, die wir eigentlich oder vielleicht gar nicht so machen wollen. Die gute Freundin der Tradition ist das Beharrungsvermögen, eine bräsige Bequemlichkeit, sich mit Dingen abzufinden,
weil es immer so war.

Wenn dann aber doch der Moment kommt, der Tradition nicht mehr folgen zu wollen, ergeben sich mitunter große Probleme. Sie zeigen sich besonders heftig bei Kleinigkeiten: wenn wir zum Beispiel entgegen einer jahrelangen Übung
nicht mehr am zweiten Weihnachtstag zur Schwiegermutter fahren möchten. Sie pocht natürlich auf den Besuch, weil sie es nicht anders kennt. Und wir können nachvollziehen, dass sie verletzt ist, wenn wir die Absage nicht gut begründen
können.

Aber was passiert, wenn sie trotz guter Begründung eingeschnappt ist? Klarer Fall: wir haben gegen die Spielregeln der Tradition verstoßen! Die Tradition besteht aus Spielregeln, nach denen wir handeln, weil wir immer so gehandelt haben. Sie erfüllt sich also selbst durch etwas, das nicht anders sein darf, weil es immer so war. Damit kann man natürlich jede neue Idee totschlagen.

Die Macht der Tradition über uns ist verblüffend. Weil die Tradition die Wirklichkeit nicht aushebeln kann, entwickelt sie eine hinterhältige Herrschaft über die Gefühle der Menschen, als hätten wir ein kleines Hämmerchen im Kopf. Es schlägt zu, wenn wir einer familiären, beruflichen oder gesellschaftlichen Erwartung nicht mehr folgen wollen.
Dann erleben wir ganz schnell die heuchlerische, anmaßende und bedrängende Art der Tradition.

Sie beharrt auf etwas.

Sie treibt dich in die Enge.

Sie appelliert: „Das haben wir doch immer so gemacht!“

Sie weist dich in eine Richtung: „Was sich bewährt hat, wollen
wir nicht ändern!“

Sie moralisiert: „Warum brichst Du immer aus der Gemeinschaft aus?“

Die Tradition befiehlt dir: „Folge mir.“

Sie unterwirft Dich: „Sei gehorsam“.

Tradition ist autoritär, weil nur so das Kollektiv zusammenhält.

Tradition ist ein Machtinstrument von Menschen, die andere
Menschen daran hindern wollen, neue Wege zu gehen.

 

Tradition bedeutet Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung.

Wer sich selbst bestimmt, entwickelt für sein Leben eigene Regeln. Regeln für neue Erfahrungen und Lebensumstände. Das darf nicht sein. Doch jeder Mensch muss das Leben fuhren dürfen, das er führen möchte – aus eigener Verantwortung und eigener Kraft, ohne fremde Beschwörer, die andere Menschen zu ihrem –vermeintlichen – Glück zwingen wollen.

Das Hämmerchen im Kopf darf nicht mehr schlagen, nur weil wir unser Leben zeitlich und inhaltlich anders gestalten möchten. Wenn sich Gleichgesinnte freiwillig treffen, um eine Ordnung zu ritualisieren, kann die Tradition natürlich wie ein verbindendes Band für ein gemeinsames Anliegen wirken, zum Beispiel auf Schützenfesten oder in Heimatvereinen. Das ist völlig klar. Diese Gemeinschaften sind wie soziale Katalysatoren: Menschen finden sich zusammen, die sich aufgrund persönlicher oder gesellschaftlicher Grunde sonst nicht gefunden hätten.

Das wohl markanteste Beispiel für eine positive Tradition liefern uns die Benediktiner. Sie leben nach den Regeln ihres Ordensgründers Benedikt. Der gute Mann hat sie vor 1400 Jahren niedergeschrieben.

Fragt man die Menschen nach diesen Mönchen, fallen häufig Worte wie:

 

➽➽ Weltfremd
➽➽ Hinter hohen Mauern
➽➽ Wie kann man nur so leben.

 

Tatsächlich sind die Mönche mit der schwarzen Kutte nicht aus der Zeit gefallen, sie hören und sehen sehr genau, wie sich die Zeit verändert.

Sie schreiben über das Werk ihres Gründers: „In einer 1400jährigen Geschichte hat die Regel des heiligen Benedikt klösterliches Leben gewährleistet und Menschen
inspiriert, ein geistliches Leben zu fuhren. Doch darf nicht übersehen werden, dass sie vieles enthält, was einem inzwischen überholten Zeitgeist, einem anderen Zivilisationsstand, einer vergangenen Kultur entstammt.“

Das ist eine klare Absage an striktes Handeln, wie es immer war. Es gibt keinen vernünftigen Grund, eine Tradition zwangsweise zu pflegen. Denn die Benediktiner erklären, dass sich die Mönchsregel „an den Erfordernissen einer sich
fortentwickelnden Zeit messen lassen muss“.

Deshalb überdenken die Mönche den Sinn einer Regel immer wieder. Das Mönchtum müsse sich, „um glaubwürdig und lebensfähig zu bleiben, den jeweiligen Zeitfragen stellen und sich mit ihnen auseinandersetzen“.

Die Benediktiner sind die älteste Ordensgemeinschaft des Abendlandes. Sie kennen sich aus mit Tradition, und sie wissen wie keine andere Organisation damit vernünftig umzugehen. Es ist erstaunlich, wie kraftvoll aktuell die Regel selbst nach 1400 Jahren noch ist.

Darin liegt eine Freiheit, über die wir nachdenken sollten. Eine Freiheit, die sich eben nicht an Verpflichtungen einer Tradition bindet, sondern sich von ihr löst, wenn es sinnvoll ist. Es ist nur dieser Sinn, der unser Handeln bestimmen muss. Sonst gar nichts.

 

3.3. Normalität leben mit Stempel und Klarsichthülle

Wenn ich Dich frage: „Bist Du normal“? Dann wirst du wahrscheinlich völlig entrüstet entgegnen: „Was sonst? Natürlich bin ich normal“. Wer normal ist, lebt mit und in einer Normalität. Richtig? Normalität schafft Sicherheit, Ordnung und Rhythmus, ein Leben wie am Fließband, präzise, ohne Überraschungen. Dieses Leben stanzt und normt den Tag und jeder Gleichklang bekommt den Stempel: gut gemacht, alles in Ordnung. Das ist Normalität.

Wenn der Abend kommt, liegt der Tag in der Klarsichtfolie. Aufgeräumt, geordnet sichtbar wie der Vorgarten mit seinen geschnittenen Röslein und dem kugelrund frisierten Buxbaum-Pärchen. Dieses gezüchtete Ambiente der Natur mit seiner
gleichförmigen Artigkeit ist der Stolz aller Nachbarn, die jeden Samstagvormittag mit pingeliger Detailarbeit daran schneiden, hacken und zupfen. So sieht es fein aus, zuerst frühlingsmunter, dann winterfest. von Saison zu Saison, von Jahr zu Jahr.

Mittendrin in der Nachbarschaft aber ein Beet, das wie ein verlaustes und ungekämmtes Ungeheuer aussieht. Sein Inhaber sagt: „Ich liebe es, wenn die Natur macht, was sie will. Ich mag es nicht, wenn die Pflanzen wie ein Pudel beschnitten
werden.“

Seine Nachbarn halten komplett dagegen: „Wie sieht das denn aus, wenn einer seinen Garten verkommen lässt. Hier kann doch nicht jeder das machen, was er will. Wir sind doch schließlich eine Gemeinschaft. Wir wollen doch alle, dass es hier schön aussieht.“

So viel ist jedenfalls klar: Hier geht es nicht um Recht oder Unrecht, es gibt um die Deutungshoheit, was normal ist. Wenn alle das Gleiche wollen, einer aber nicht, dann verhält er sich gegen die Norm. Er ist also unnormal. Dabei sagte schon Friedrich der Große, dass jeder nach seiner Fasson selig werden soll. Das kann ein König leicht sagen, aber wie erklärt man das seinen Nachbarn?

Die Seligkeit nach der eigenen Fasson endet schnell dort, wo das genormte Seelenheil sich gegen jeden Auswuchs des Andersseins wehrt. Genau das erleben wir jeden Tag, da ist das Gartenbeispiel nur eine lächerliche Episode.

Normalität fördert im guten Sinne eine Gemeinschaft der Gleichgesinnten, und grenzt im schlechten Sinne die Eigensinnigen aus. Der Eigensinn ist Unkraut für das genormte Denken, Fühlen und Handeln der Anderen.

Die Normalität ist nichts anderes als eine Erwartung an uns. Sie bildet sich heraus, wird zum beherrschenden Merkmal und entwickelt sich zu einem Diktat: störe unsere Normalität nicht!

Die Normalität ist ein Muster mit klaren Zuordnungen. Jeder kennt sie. Es sind Gepflogenheiten, Gewohnheiten, Traditionen, Regeln, Sitten, Bräuche. Dafür brauchen wir keine Worte, die Normalität funktioniert wie ein Verhaltenskodex. Das gewünschte Verhalten regelt automatisch eine Selbstverpflichtung und Selbstkontrolle. Es ist so, wie es ist, und deshalb bleibt es so.

In einer Normalität darf man all das machen, was normaler Weise auch die anderen Menschen machen. Abweichungen sind nicht vorgesehen. Der normale Mensch ist so normal wie der Durchschnitt einer Gruppe oder eines Landes. Es gibt Menschen, die genau in diesen Durchschnitt hineinpassen wollen,

 

➽➽ um nicht aufzufallen;
➽➽ um Erwartungen zu entsprechen;
➽➽ um sich nicht zu verirren.

 

Sie empfinden den strukturierten Lebenslauf mit klaren Grenzen in einem überschaubaren Rahmen als Befreiung von Situationen, die wir nicht überschauen können oder uns Angst machen.

Wenn Menschen nicht mehr klar kommen, sagen sie häufig: „Ich sehne mich nach Normalität“. Sie ist dann wie eine Mutter, die die Falten des Lebens glättet und sich dem schwankenden Alltag mit Schutz und Fürsorge entgegenstellt.

Wenn ein Mensch im Gefängnis sagt, er wünsche sich wieder ein normales Leben, ist das absolut verständlich. Aus Sicht der freien Menschen ist diese Freiheit tatsächlich das Normalste der Welt.

Es gibt aber auch Menschen, für die ist Normalität kein Sehnsuchtsort, sondern eine Anstalt zur Bekämpfung des eigenen Willens. Diese Musterbehörde katalogisiert den Durchschnitt. Wer es nicht schafft, daraus auszubrechen, wird krank. Diese Krankheit schröpft den Aufbruch, die Kreativität und Einzigartigkeit eines Menschen.

Diese Krankheit zwingt ein Übermaß in ein Maß, es drucktdas Über in das Gleich. Gleichheit als Formel der Normalität. Wer einen Sinn hat, ihn aber nicht ausdrucken oder ausleben darf, wird immer diese schmerzhafte Lücke in seinem Leben
spüren.

Und das ist ein Dilemma: Menschen brechen aus ihrer Normalität nicht aus, weil Familie, Beruf oder Freundeskreis es nicht zulassen, und der Wille, sich durchzusetzen, noch zu schwach ist. Das ist nachvollziehbar: Wer in einer angepassten Familie groß geworden ist oder sich selbst so sozialisiert hat, merkt erst später: „Ich bin doch ganz anders.“

Hoffentlich ist es nicht zu spät, hoffentlich reichen Wille und Kraft, um aus der Normalität auszubrechen und die Widerstände auszuhalten. Es ist ein Kampf: Wenn ein Mensch nicht mehr den durchtrainierten Erwartungen der Normalität entspricht, beginnt das Stirnrunzeln der Anderen: „Was ist denn nur los mit dir. Du bist so komisch geworden?“ „Komisch“ leider nicht im Sinne von lustig und witzig. Denn Komik versteht hier keiner. Wer nicht mehr mitmacht, bricht mit der Norm. Er ist dann unnormal. Normal sind nur diejenigen, die ihr Leben so wie immer weitermachen, wie es die „Anderen“ gewohnt sind.

So ernst kann Normalität sein. Und wenn wir diesen Ernst einmal radikal zu Ende denken, stellen wir fest, dann er uns zurückwirft. Ein normaler Mensch ist nicht in der Lage oder er hat nicht den Mut, anders zu fragen, Dinge anders zu sehen,Ziele anders anzusteuern. Er versackt in der Normalität.

Dagegen ist der unnormale Mensch ein Spinner. Wie häufig sagen wir zu einem anderen Menschen: „Du spinnst ja “! Tatsächlich ist dieser Spinner mit seinen Gedanken weiter, als er in der Vorstellungskraft der Normalen sein darf.

 

Kann nicht sein!
Darf nicht sein!
Alles Quatsch!
Du Querulant!

 

Aus der Sicht der Normalen ist der Fall völlig klar: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Diese Logik pflegt eine Normalität, die Ordnung über eine Idee stellt. Die Normalität verwaltet eine Idee, eine Idee muss aber leben, damit sie sich weiter entwickeln kann.

Die Kampflinien zwischen dem Normalen und Unnormalen verlaufen immer zwischen braver Ordnung und kreativem Chaos, zwischen einer So-muss-es-sein-Logik und einer
Spinnerei. Unsere Gesellschaft ist ein produktiver Wirrwarr an Eindrücken,
Wünschen und Zielen. In diesem Kosmos wirken

 

➽➽ Bildung und Toleranz,
➽➽ Fantasie und Kreativität,
➽➽ Offenheit und Vitalität.

 

In diesem Hin und Herr sollten wir Emotionen, Erfahrungen und Wünsche stärker betonen. Der Abschied von der erzwungenen Normalität bedeutet natürlich mehr Eigenverantwortung. Die Menschen haben mehr Zeit, sie sind besser informiert,
aufmerksamer und individueller. Sie wollen raus aus dem Trott und spüren, was Leben bedeutet. Leben bedeutet, nicht das zu tun, was zu tun ist, sondern das zu tun, was man will.

Dieser anarchische Gedanke ist natürlich eine Illusion, weil es finanzielle, rechtliche und moralische Grenzen gibt. Aber diese Grenzen verwischen, weil sich alles verändert.
Die Diktatur der antrainierten Gewohnheit und der schematischen Tradition,
die wohl jeden Menschen beherrscht, zerbröckelt.

Die vielen unausgesprochenen „Du-darfst-nicht-Regeln“, die eine Gesellschaft moralisieren, lösen sich auf oder sie bilden einen neuen Kontext, der unserem jetzigen
Leben mehr gerecht wird. Diese Emanzipierung findet in allen Lebensbereichen statt.

Ich halte es mit George Bernhard Shaw, ein irisch-britischer Dramatiker, der von 1856 bis 1950 gelebt hat. Er hat gesagt: „Was wir brauchen, sind ein paar verrückte Leute; seht euch an, wohin uns die Normalen gebracht haben“.

Wenn die Normalität zur Gewöhnung wird, stirbt jede Veränderung und das ist gefährlich. Der Guru der Management-Lehre, Peter E. Drucker, hat normale Manager zur Genüge kennen gelernt, die sich gar nicht vorstellen konnten, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Er sagt: „Ein Unternehmen, das noch gestern als leuchtender Stern seiner Branche am Firmament galt, wird plötzlich mit Stagnation
und Frustration konfrontiert und schlittert in eine ausweglose Krise.“

Solche Krisen gibt es nicht nur in der Wirtschaft. Sie sind allzu menschlich. Also, verrücke dein Leben so, wie es dir gefällt, auch wenn dir der Beifall der Normalen versagt bleibt. Es bringt allerdings gar nichts, sich gegen den Strom müde
zu schwimmen. Vernunft ist immer dann hilfreich, wenn Eigenwilligkeiten unter dem Strich nichts Positives einbringen.

 

 

 

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