Les Miserables im Berliner Ensemble

Frank Castorf bleibt Berlin erhalten – ausgerechnet am BE. Die Bearbeitung von Victor Hugos Riesenroman gelingt großmeisterhaft. Der Rest ist Leerlauf.  

Oliver Reese ist der stille Gewinner der ersten Halbzeit der Berliner Theatersaison 2017/18, so viel steht schon mal fest nach seinen ersten drei, vier Monaten als Intendant des Berliner Ensembles. Mit grellen Gelb auf pechschwarzem Plakatgrund schreit das Theater am Schiffbauerdamm um Aufmerksamkeit für seinen Neuanfang im Jahr eins nach Claus Peymann – und doch scheint dieser Neuanfang umso besser zu gelingen, desto größer der mediale Schatten ist, den der nicht enden wollende Streit um die Wachablösung an der Volksbühne auf die hauptstädtische Theaterwelt wirft.

Mit Albert Camus‘ „Caligula“ (Regie: Antú Romero Nunes) und Bertolt Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ (Michael Thalheimer) hat Intendant Reese im September zwei Premieren als Anwärter auf andauernden Repertoire-Erfolg positioniert – und anschließend unter anderem mit „Medea“ und „Penthesilea“ (beide Thalheimer, beide mit Constanze Becker in der Hauptrolle) zwei Frankfurter Repertoire-Klassiker für Berlin aus der Taufe gehoben: vier begehrte Abende, das muss ihm erst mal einer nachmachen.

Nun also Vicoto Hugos „Les Miserables“ in einer Bearbeitung von Volksbühnen-Gott Frank Castorf – ganz sicher eine Zumutung für Reese, der wie Thalheimer Stücke, Stoffe und schlanke Zwei-Stunden-Abende liebt, den puren Text, das reine Drama, die schlackenlose Verdichtung. Dass er dennoch einem Fan der Opulenz, des lawinenhaften Überschusses und der Redundanz die Bühne frei räumt, zeugt nicht nur von einem guten Gespür, sondern auch von Größe: Ein guter Chef duldet – und fördert – auch das, wonach ihm selbst nicht der Sinn steht – weil er ahnt, dass es sich dabei um einen Mangel handeln könnte.

Castorf also am Berliner Ensemble, der ewig männlich-maulheldige Antikapitalist mit dem ausplündernden Großroman-Tick, der manisch salonrevolutionäre Weltliteratur-Zerschnipsler und Handycam-Intimus, der unersättliche Pamphlet-Kulissen-Schieber und Drehbühnen-Barrikaden-Kämpfer, der seiner umjubelten Volksbühnen-Zeit im Mai mit einer grandiosen, siebenstündigen Anverwandlung von Faust-Motiven ein Denkmal gesetzt hatte… – kann dieser Castorf auch auf der kleinen BE-Bühne seinen großen Auftritt haben?

Aber natürlich, warum denn nicht? Zumal sich Castorf und Reese nach der Premiere Anfang Dezember auf eine reguläre, fünfeinhalbstündige Fassung des Abends geeinigt haben: Die selten gezeigte, siebenstündige Version – ein Director’s Cut sozusagen, der alles enthält, was (allein) Castorf für unverzichtbar hält – ziert nunmehr ausnahmsweise das Programm. Besser ist es. Denn nach den fünfeinhalb Stunden ist einem Castorfs „Bonusmaterial“ ziemlich schnuppe – weil 180 großartige Minuten diesmal, zeitökonomisch gesehen, mit einer passablen und anderthalb saublöden Stunden recht teuer erkauft sind.

Die typische Castorf-Cuvee – diesmal: die Verschränkung von Szenen aus Victor Hugos monströsem Roman mit kubanischer Revolutionsschriftstellerei, die Überblendung „der Elenden“ im Paris des 19. Jahrhunderts mit den (vom bösen Kapital, versteht sich, nicht von Fidel Castro ausgebeuteten) Sklaven von Havanna – schmeckt banal. Die Suada über den Ausverkauf Kubas etwa, seine Selbstauslieferung an US-Touristen und Dollar-Devisen, die Sina Martens nach der Pause als heftig tyrannisiertes Bauchladen-Girlie eine halbe Stunde lang herausschreien muss – was für ein pubertäres, selbstgerechtes Gequatsche! Und die gefühlte Dogma-Film-Stunde bald anschließend im Bühnen-Off, vollgestopft mit belanglosem, narzisstischem Untergrund-Geraune ohne Drama, Richtung, Ziel – was für eine Zumutung!

Der Kern des Abends aber, die Inszenierung der zu leicht verfremdeten Vignetten (vor allem der ersten Teile) des Romans verdichteten Szenen und die skizzenhafte Zeichnung von Hugos unvergesslichen Hauptfiguren, gelingen Castorf meisterhaft – nicht zuletzt dank eines herausragenden Castings. Andreas Döhler mimt nicht nur großartig einen stark biberkopfenden Jean Valjean – damit rechnet fest, wer ihn aus „Berlin Alexanderplatz“ am Deutschen Theater kennt -, sondern lässt auch als bourgeoiser Philanthrop und Bürgermeister jederzeit kunstvoll seinen proletarischen Charme durchscheinen. Wolfgang Michael ist, mit Verlaub, schon auch aus physiognomischen Gründen eine Idealbesetzung von Javert, einem Jakobiner des Rechts – und verkörpert den kalten Fanatismus des Gesetzes so scharf wie ein Guillotinenklinge.

Valery Tscheplanowa stellt Fantine eindrücklich als mütterlichen Engel der Armut und rettungslos zugrunde gerichtete Frau dar (bevor sie von Castorf gezwungen wird, das Schicksal der achtjährigen Cosette zu verblödeln). Und Jürgen Holtz, der große Alte am BE mit der zauberhaften Gurgelstimme, weiß nicht nur mit seinem einleitenden Lamento über das Babylon Paris, sondern auch als gütiger, aus Überzeugung naiver Bischof Myrel buchstäblich zu Tränen zu rühren. Allein Aljoscha Stadelmann ringt dem Gastwirt Thénardier zwar all seine Gemeinheit, nicht ganz aber dessen gewitzte Bildung und  Schläue ab – so wie Stefanie Reinsperger zwar die eifernde, überlebensgroße (Raben-)Mutter-Monstrigkeit von Thénardiers Frau trefflich über die Rampe bringt, nicht ganz aber deren hündische Unterwürfigkeit zu vermitteln weiß.

Der Rest des Ensembles (des Stoffes, der Figuren), von einer jederzeit ausgezeichnet mit-spielenden Sina Martens einmal abgesehen, fällt leider stark ab – und nach sechs Stunden sogleich dem Vergessen anheim: Die Figuren des heiß politisierten Marius und des lebensstarken Straßenjungen Gavroche, der im Programmheft zu Recht als „unsterbliche Schöpfung“ Hugos gefeiert wird, lässt Castorf geradezu schmählich im Stich. Tatsächlich hat man das Meiste des Besten bereits vor der Pause gesehen, von einer herrlichen Stummfilm-Einlage einmal abgesehen – und von der Zuspitzung des dramatischen Duells zwischen Valjean und Javert, versteht sich, das im Roman in Verfolgungsjagden und Gerichtsverhandlungen gipfelt und von Castorf listig als aufreibendes Psychoduell in die Enge eine Amtsstube verlegt wird.

Aber so ist das nun mal bei einem Castorf-Abend: Man kann sich auch mal eine halbe Stunde gedanklich entfernen vom Geschehen auf der Bühne, weil man sicher sein kann, dass man von einem anderen Geschehen auf derselben Bühne wieder geweckt wird – um halbe Stunden des reinen Theaterglücks zu erleben. Alles wie immer also – und: Kein Grund, Les Miserables zu verpassen.

Die nächsten Vorstellungen: 6.1., 7.1., 22.2., 23.2., 2.3., 3.3. (am 3.3. in der „Extended Version“) 

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