Kafkas „Amerika“ am Deutschen Theater

Dušan David Parizek rezitiert Kafkas „Amerika“ – dramatisieren kann er den Roman nicht. Ein, nunja: sehr prosaischer Abend am Deutschen Theater.

Anders als „Der Prozess“ und „Das Schloss“ ist Franz Kafkas Roman „Der Verschollene“, von seinem Freund und Nachlassverwalter Max Brod mit dem Titel „Amerika“ versehen, recht linear und unverrätselt angelegt: Die Hauptfigur, der 16-Jährige Karl Rossmann, ist keinen anonymen Kräften, einem grundlos waltenden Gott, dem Gesetz oder der Bürokratie ausgeliefert, sondern einem Land, das die durchrationalisierte, geldinduzierte, auch vergnügungsselige Moderne repräsentiert. Und natürlich Menschen, deren Seelen im Großstadtleben verzwergen, deren Resonanzfähigkeit für alles Zwischenmenschliche im stahlharten Gehäuse einer berechnenden Vernunft verkümmert.

Man kann daher Kafkas „Amerika“ als Meditation über die Entfremdungs-Soziologie von Georg Simmel und Max Weber lesen, als sehr zeitgenössischen Roman, der eine beschleunigte Neuzeit, die ausgenüchterte Anonymität geschäftlicher Beziehungen und die fordistische Stupidität der organisierten Büroarbeit illustriert – also als eine Art ergänzende Entsprechung der Werke von Robert Walser, Alfred Döblin und Robert Musil. Oder aber auch als prosaische Vorwegnahme von Arthur Millers Drama „Tod eines Handlungsreisenden“, also als eine Parabel des amerikanischen Albtraumes.

Regisseur Dušan David Parizek entscheidet sich für nichts von alledem – und so fragt man sich an diesem Abend zähe 135 Minuten lang, mit was sie sich am Deutschen Theater in den vergangenen Probenwochen eigentlich beschäftigt haben. Der Wirbel des Metropolenverkehrs, der im Roman eine bedeutende Rolle spielt? Ausgeblendet. Die (un-)beherrschte Affektkontrolle der Figuren, die latente, jederzeit ausbruchsbereite Gewalt, die bei Kafka hinter jeder umgeblätterten Seite lauert? Unterschlagen.

Statt dessen taumelt Parizeks Roßmann (Marcel Kohler) – in der Heimat verführt von einem Dienstmädchen und verstoßen von seinen Eltern; in der Fremde fallengelassen von seinem reichen Onkel und verprügelt von einer Sadistin; auf der Straße ausgenutzt von zwei Gaunern und als Liftboy schließlich misshandelt von seinem Vorgesetzten, dem Portier – wie die kleinkindlich staunende Duldsamkeit in Person von einer Niederlage zur nächsten Erniedrigung: den Umständen gehorsam, wenn auch manchmal spontanempört  ausgeliefert.

Kohlers Roßmann, unsicher lächelnd, mit hochgezogenen Schultern und schreckweiten Augen, ist weder Rebell noch Stoiker, er gewinnt nicht an Statur und Schärfe – und wächst auch über nichts hinaus. Gewiss, das ist im Sinne Kafkas, der mit „Amerika“ nicht nur ein Negativbild transatlantischer Glücks- und Freiheitsversprechen geschrieben hat, sondern auch einen anti(europäischen) Bildungsroman. Aber was uns an der Figur des Karl Roßmann heute noch interessieren soll, bleibt vollkommen im Dunkeln, weil Parizek weder aktuelle Bezüge andeutet noch an einer gleichnishaften Entzeitlichung des Geschehens interessiert zu sein scheint.

Und so rollen die Szenen spurlos am Zuschauer vorüber. Der von Parkettwänden eingefasste Raum (Bühne: Parizek) weitet sich umgekehrt proportional zu Roßmanns immer begrenzteren Möglichkeiten, zu seiner sich ins Unendliche weitenden Verlorenheit – kann man machen. Und so manche (von Parizek ansprechend) dialogisierte Textpassage wird, namentlich von Ulrich Matthes alias Onkel Jakob mit bewunderungswürdiger Text- und Betonungssicherheit auszelebriert. Warum allerdings muss die nur fünfköpfige Schauspielerriege in ihren wechselnden Rollen immer wieder an zwei Overhead-Projektoren nesteln, um nach Kafkas Zeichnung „Mann am Tisch“ lauter Sinnlosigkeiten an die Parkettwände zu werfen? Und vor allem: Warum dramatisiert Parizek weder Kafkas Text noch Roßmanns „Story“, warum wagt er weder ein Existenzstück noch eine Jacques-Tati-Komödie – warum entscheidet er sich nicht für eine, seine Regiehandschrift?

An den Schauspielern liegt es ganz gewiss nicht, dass der Abend misslingt: Regine Zimmermann zieht als Oberköchin und Therese wienerische-sächsische Mundart-Register. Ulrich Matthes ist in der Sparsamkeit und Plastizität seiner Onkel-Gesten und mit dem  osteuropäisch eingefärbten Butler-Deutsch des Personalchefs eine stille Sensation. Und Edgar Eckert spielt den Robinson mit derselben sensationellen schwitzig-nasetriefenden  Aufdringlichkeit, wie man sie von ihm schon aus „Gespenster“ und „Berlin Alexanderplatz“ kennt: Schwer vorstellbar, dass er derzeit einen Schauspieler gibt, der es mit Eckert an feucht-faßbinderscher Körperlichkeit, an leiblicher Leibhaftigkeit aufnehmen kann.

Leider vermag aber selbst Eckert den textstrengen, bravspröden Ernst der Inszenierung nicht aufzulockern – weshalb die letzte Szene im „Naturthetarer von Oklahoma“ vollends zum schrägen, mit dem Rest des Abends seltsam unverbundenen Appendix gerät: Der utopische Ort, von Kafka als diabolische Zuflucht für Einpassungswillige entworfen, ein Ort, in dem jeder Mensch seinen Fähigkeiten gemäß seinen Platz finden kann und in dem das Leben zur Kunst gerinnt, als Figur zu reüssieren – nun, dieser mephistophelisch-verführerische amerikanische (Unterhaltungs)-Traumort weitet sich nach den letzten einstürzenden Parkettwänden zum großen Finale denkbar kleiner Revuekunst: Perücken, Engel, Scheinwerferlicht, und Ulrich Matthes stimmt im bodenlangen Paillettenkleid „Suicide is painless“ an – das Zusehen dabei ist es leider nicht.

die nächsten Vorstellungen: 7., 21., 26. Oktober, 2., 13., 24., 30. November. Karten unter Telefon 030-28441225 oder www.deutschestheater.de 

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