Der Schlussakkord des Berliner Musikfestes: Monteverdi und Bruckner

Justin Doyle feiert einen famosen Einstand mit dem RIAS Kammerchor.

Marek Janowski regt die Berliner Philharmoniker zu angenehmer Gelassenheit in Bruckners Vierter an.   

Zu den größten Vorzügen des soeben zu Ende gegangenen Berliner Musikfestes gehört, dass die Philharmoniker während der ersten Septemberwochen einmal nicht im Mittelpunkt des sinfonischen Geschehens in der Stadt stehen – dass sie sich wie selbstverständlich einreihen in eine Kette (meist) gelingender Abende. Auch auf die Philharmoniker selbst scheint dieser Umstand positiv abzustrahlen: Sie wirkten zum Saisonbeginn angenehm gelassen (nicht entspannt) und unverbraucht spielfreudig (niemals forciert).

Vielleicht sollten die Philharmoniker aber auch ganz einfach Marek Janowski bitten, mit ihnen jedes Jahr zum Auftakt ein spätromantisches Programm zu erarbeiten: Die Souveränität und Übersicht des 78-jährigen Dirigenten, den Berlinern seit Jahrzehnten als Künstlerischer Leiter des Rundfunk-Sinfonieorchesters bekannt, dürfte Balsam für den Ensemblegeist des an solistischen Spitzenkräften so reichen Orchesters sein.

Ob Janowski indes ein inniger Freund der Palestrina-Vorspiele von Hans Pfitzner ist? Man möchte es leise bezweifeln nach den knapp zwanzig Minuten vor der Pause. Pfitzner hat die Oper über den Renaissance-Komponisten Palestrina in den Jahren 1912 bis 1915 geschrieben, entzündet vom reinen Kunstideal, das gleichsam über die Weltläufte erhaben ist. Entsprechend rückwärtsgewandt klingt die Musik, spätromantisch, kontrapunktisch, quart- und quintselig, nach archaisch eingefärbtem Wagner auch und süffiger Romantik mit einem Schuss Modernität – wie eine Art reaktionärer Gegenentwurf zu den atonalen Fünf Orchesterstücken Arnold Schönbergs.

Janowski und die Philharmoniker entwicklen durchaus Sinn für den nostalgischen Blick auf die „Welt von gestern“ (Stefan Zweig), die Pfitzner hier musikalisch betrauert und feiert, auch für den farbexplosiven Expressionismus des zweiten Vorspiels, der die dunkeltrüben Erinnerungsgesten und die Apologie des Künstlerdaseins in den beiden anderen Vorspielen grell übertüncht. Aber letztlich scheint Pfitzners Musik (weil man vorher weiß, welcher Zeit sie entstammt?) nicht nur den Zuhörern, sondern auch Janowski und den Philharmonikern nicht vollends zu behagen, scheint den Ausführenden ein wenig zu schwül und illustrativ zu sein, um sich jenseits ihrer professionellen Beherrschung und intellektuellen Einordnung vollständig auf sie einzulassen.

Ganz anders das Bild nach der Pause bei Bruckners Vierter. Vom ersten Moment an, wenn sich das Hornmotiv – mit zaghaftester Entschlossenheit vorgetragen von Stefan Dohr – wie der herrlichste Sonnenaufgang aus dem leise bebenden Streicherakkord erhebt, sind die Philharmoniker ganz bei sich – und das ist in diesem Fall ganz wörtlich zu verstehen: Janowski verzichtet in der vielleicht sanghaftesten aller Bruckner-Sinfonien entschlossen auf alle Schroffheiten und Extreme, ohne die majestätische Massivität der Tutti zu leugnen, er baut die Crescendi sorgsam auf, schichtet die Register trennscharf, verausgabt sich nie – und verleiht den kammermusikalischen Passagen in Kopfsatz und Scherzo, dem Zusammenspiel zwischen Blech, Holz und Streichern, eine Ruhe und Weite, ohne die der nächste Aufstieg nicht gelänge.

Und so wird der Abend zu einem Musterbeispiel moderner Ökonomie: Die von Janowski erzielte „Koopetition“ der Musiker, vor allem auch im vertrackten vierten Satz, der scharfe Kontraste zwischen volksmelodischer Heimeligkeit und massiven Schründen kennt und auf Bruckners spätere Sinfonien voraus weist, sein Vermögen, das Orchester auf eine paradoxe Balance zwischen solistischem Wettbewerbsgeist (competition) und auf ihre Kooperation zum wechselseitigem Vorteil einzuschwören, zeichnete an diesem herrlichen Abend nicht zuletzt ihn selbst, Janowski, als großen, souveränen Könner aus.


Ein Coup gelang an den beiden Tagen darauf dem RIAS Kammerchor unter seinem neuen Chefdirigenten Justin Doyle mit der Kombination von zwei Monterverdi-Klassikern: der Messe „In illo tempore“ in der St.-Hedwigs-Kathedrale und der „Marienvesper“ im (immer noch neuen) Pierre-Boulez-Saal. Doyle führte sein Doppelkonzert zunächst am Freitag in der Reihenfolge Marienvesper-Mese auf, am Samstag dann in der Reihenfolge Messe-Marienvesper – und inklusive der Pausen musste schon fünf Stunden mitbringen, wer sich beide Meisterwerke anhören wollte. Am Ende dürften Doyle und sein Ensemble mit ihrem  bis in Detail hinein durchdachten Dramaturgie und ihrem musikalischen Arrangements viele neue Kunden gewonnen haben: Kann ein Auftakt spektakulärer inszeniert werden – und gelingen?

Die Messe setzt ein mit Monteverdis musikalischem Kürzel, der Toccata aus seiner Oper „L’Orfeo“ – und ist ein meisterlich gebautes Werk der reifen Mehrstimmigkeit. Doyle entlässt seinen Chor zum Introitus effektvoll aus der Unterkirche in den riesigen Kuppelbau, aber er entlässt seinen Chor anschließend nie aus der Pflicht, die (Ober-)stimmen sauber und intonationssicher ineinanderfließen zu lassen – für das Ensemble ist es, zumal in diesem nachhallreichen Raum, eine Schule der Disziplin und Genauigkeit, für die Zuhörer ein postreligiöses Flow-Erlebnis. Problematisch allein: die instrumentelle Verstärkung des Gesangs, die sich zuweilen in einer Verdopplung erschöpft – und das Filigrane der Komposition konterkariert.

Im Boulez-Saal dagegen erweist sich nicht nur die Capella de la Torre unter der Schalmeienspielerin Katharina Bäuml als kongenialer Partner des Chors. Auch die Solisten sind fantastisch – und die die Marienvesper anstelle der (fehlenden) Antiphone ergänzenden Sinfonien und Sonaten aus der Feder von Monteverdis Zeitgenossen Salamone Rossi und Biagio Marini mit Bedacht gewählt. Tatsächlich ist „Vespro delle Beata Vergine“ ja keine geschlossene Komposition und Liturgie, sondern eine höchst disparate Sammlung von geistlichen Gesängen und Concerti – eine Leistungsschau Monteverdis, in der er etwa die Möglichkeiten der Ein-, Zwei- und Dreistimmigkeit ausbuchstabiert und eine durch Schreitryhthmen gebundene Mehrchörigkeit.

Wie Doyle das im Boulez-Saal nun alles in Szene setzt, wie er die Solisten, Chormitglieder, Orgel, Theorbe und Dulzian immer wieder neu im ovalen Saal verteilt, von Balkonen und Hochbalkonen herunter singen und musizieren lässt – das ist für den Zuhörer schlicht atemberaubend: großes Musiktheater – freilich ganz ohne die effektvollen Spitzen, mit denen Monteverdi in den vergangenen Jahren so gerne zum Vorläufer der Barockmusik geziert wird. Worum es dagegen Doyle und der Capella geht, ist die Feier Monteverdis als ein Höhepunkt und Vollendung der Renaissance-Musik.

Bezaubernd die Originalklang-Arrangements der Capella, die warme Reinheit der Zinken und historischen Posaunen. Betörend der Kontrast zwischen der dramatischen Wendigkeit des einen Tenors (Andres Staples) und der sonoren Kraft des anderen (Thomas Hobbs). Traumschön die Artikulationsfreude des Chors bis in die letzte Viertelstunde des Magnificats hinein… – und als sei es nach zwei Stunden noch nicht genug der Herrlichkeit, geben Doyle und sein Kammerchor nach riesenhaftem Applaus noch Cavallis „Salve Regina“ zum Besten: So gewinnt man Freunde (und Abonnenten).

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