Sonntagsbraten, Stadtläufe und der Zauber der Vereine. Achtung: FSK18-Content.

Die Plattformen des menschlichen Miteinanders unter Unbekannten – vulgo Social Media – bringen es mit sich, dass sich Menschen Motive zurecht legen. Twitterer wie @kaot50 begrüßen ihre Follower morgens mit der Info über den Geburtstag einer historischen Figur, @kaiNpardon hat wiederum regelmäßig bizarre Antworten parat, mit denen er jede dienstliche Email beantwortet. Auf Facebook verfolge ich seit langer Zeit, wie der mir leider noch nicht persönlich bekannte Claus Berthold, alias @calceola jeden Freitag für einen mir vollständig unbekannten Herrn Jablonski aufzählt, an welchen Läufen er das jeweils kommende Wochenende nicht teilnehmen wird. Das ist eine ganz schön lange Liste, die er sich stets bei lauftreff.de rauskopiert.

Szenen eines Stadtlaufs (1). Ruhe vor dem Sturm in Styrum.

Szenen eines Stadtlaufs (1). Ruhe vor dem Sturm in Styrum.

Trainingspläne für Ausdauersportler, im besonderen für Läufer, beinhalten auch immer Formtests im Wettkampf-Format. Die von mir favorisierten Marathon-Trainingspläne von Herbert Steffny ordnen nach einem gewissen Schema die Teilnahme zunächst an einem 10km-Lauf und danach an einem Halbmarathon an. Sie tun dies, weil Steffny sich sehr bewusst darüber ist, dass der „alleingelassene“ Läufer schon mal eher drangibt. Das macht man im Wettkampf nicht ganz so schnell. Zudem stammen sie natürlich aus einer Zeit, als keiner GPS-Laufuhren hatte und man nicht genau wusste, wo ein Kilometer endet, geschweige denn exakte 10 Kilometer per Landkarte zusammenmessen konnte.

Diese Wettkämpfe, die den Kalender von lauftreff.de füllen, sind in in der überwiegenden Mehrheit die Veranstaltungen örtlicher Vereine. Es sind keine Megaevents von Profiorganisationen wie SSC Events, die als Ausrichter des Berlin-Marathons andere Ziele verfolgen als der Tusem Essen mit seinem Marathon rund um den Baldeneysee („Von Läufern für Läufer“) oder dem Turnverein Styrum.

Letzterer hatte am 30. Oktober zum jährlichen Stadtlauf geladen, der dies Jahr zeitgleich Meisterschaft der Stadt Mülheim an der Ruhr war. Klingt groß, klingt wichtig – war dann ein Wettbewerb mit 91 Startern, die fünf Runden von jeweils zwei Kilometern zurücklegten. Die Strecke war nur halbherzig abgesperrt. Durch die wartende Startergruppe konnten sich so dann noch zwei Autos kurze Momente vor dem Start durchdrängeln, beim Laufen selbst, musste – wie vorher logischerweise gewarnt wurde – mit Gegenverkehr gerechnet werden. Und der kam auch.

Sport im Kleinen, abseits des Events, organisiert von ehrenamtlichen Helfern, mit geringsten Mitteln, in diesem Falle auch ohne Zeitnahmechip, sondern einer Bruttozeit für alle, das ist die Seele des Amateursports.

Szenen eines Stadtlaufs (5). Ohne Sponsoren keine Läufe.

Szenen eines Stadtlaufs (5). Ohne Sponsoren keine Läufe.

Nun ließe es sich vortrefflich lästern über den Sprecher, dessen Stimme über eine Art Gitarrenverstärker mit zwei Cassettendecks übertragen wurde oder das nahezu sinnlos auf der Streck emporgeblasene Werbemittel oder das Tischlein mit Bechern, dessen Nutzung die humorigen Menschen des TV Styrum mehrfach mit „Die Bar ist geöffnet“ feil priesen. Aber es würde dem Kern dieser Veranstaltungen nicht gerecht. Denn hier wurde gelaufen. Nicht genossen, nicht erlebt, nicht teilgenommen – Wettbewerb. Sport. Anstrengung. Schweiß. Kampf.

Ich merkte das ziemlich genau schon 100 Meter nach dem Start, als gefühlt die Hälfte der Teilnehmer vor mir waren und sich nach 200 Metern auch begann zu entfernen und nach 300 Metern uneinholbar enteilt war. Auch wenn 10 Kilometer für einen Ausdauersportler mit Hang zur langen Distanz immer wie ein Sprint wirken – ich kenne Stadtläufe und weiß: Ein paar von den Eiligen treffe ich später beim Überholen wieder. Nicht so in Styrum. Einen einzigen Läufer konnte ich zurück überholen, der Rest war nicht nur zu Beginn schneller, er war die ganze Zeit schneller.

Bei fünf Runden kommt man immer wieder an der gleichen Stelle vorbei und ich kann berichten, die tradierte deutsche Küchenkultur lebt auch in einem sehr internationalen Vierteln des Ruhrpotts Sonntagsmittags auf. In der Herwarthstraße gab es für glückliche Bewohner der Straße am gestrigen Sonntag einmal Schweinebraten, beim zweiten Duft tippe ich auf Rinderrouladen. Was man halt so wahrnimmt, während der Puls nach oben geht, die Atmung intensiver wird, bis die Lunge auf dem letzten Kilometer asthmatische Pfeiftöne auf dem letzten Kubikzentimer Ausatmung von sich gibt. Rinderrouladen und Braten. Lecker.

So kommt man rum, so lernt man sein Land und seine Region besser kennen. Kleine Läufe in der Umgebung. Gladbeck, Hamminkeln, Schermbeck, Ratingen, Ratingen-Lintorf, nun Mülheim Styrum. Alles keine Orte, die im Guide Lonely Planet vordere Ränge einnehmen und die ich überhaupt nur besucht habe, weil ich da beim Stadtlauf melden wollte.

Und immer waren es die Vereine, die Menschen vor Ort, die den Lauf durch ihr Engagement, und im Falle von Styrum auch sportlichen Anspruch, zu einem schönen Erlebnis machen. Und einem in diesem Falle sogar bemerkenswert sportlich anspruchsvollen, wenn es um Zeiten geht. Meine Zielzeit von 00:44,45 hätte nur in der Altersklasse 65 und Älter den ersten Platz gebracht. Der tatsächliche Sieger des Jahrgangs 47 brauchte lediglich acht Sekunden mehr, in der Altersklasse über 60 wäre ich nicht mal aufs Treppchen gekommen, geschweige denn von M55 oder M50. In meiner eigenen AK45 darf ich mich in der unteren Hälfte der Ergebnisliste suchen. Gefunden habe ich also einen schönen Wettbewerb, aufgespürt via Facebook, via eines mir bislang nur virtuell Bekannten, via einer Datenbank. Sage noch einer, Social Media könne nix. Es bringt dich an Orte, die du nie zuvor gesehen hattest. Mit Bratenduft an der Laufstrecke als olfaktorischem Reiz. Schön war’s.

 

 

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