„Ziehen Sie beim Marathon keine frischen Socken an!“ Tipps vom medizinischen Leiter des Berlin-Marathon, Lars Brechtel

Der Berlin-Marathon naht in Riesenschritten, ich bin dabei und noch gesund. Hoffentlich auch noch dabei und noch danach. Marathon, so heißt es, versetze den Körper in eine Art Ausnahmezustand, alle Systeme liefen auf Krisenmanagement und Notfall.

Letzteren in echt gilt es zu vermeiden. Der Berlin-Marathon ist der größte Deutschlands mit rund 40.000 Startern. Rund 760 Sanitäter, Masseure, Physiotherapeuten, Ersthelfer und Ärzte kümmern sich entlang der Strecke und im Zielbereich um etwaige Notfälle. Allein im Zielbereich sind 50 Ärzte aus verschiedenen Fachrichtungen vor Ort. 10 Motorradfahrer mit medizinischem Personal fahren auf der Strecke, um bei schweren Fällen schnell eingreifen zu können. Der Bedarf ist da und reicht von der „Hilfestellung“ (Pflaster für die Blasen) bis zur medizinischer Versorgung (Kreislaufzusammenbruch oder anderen ernsten Vorkommnissen).
Was aber können wir davor, dabei, danach tun, um sicher ans Ziel zu kommen. Fragen an Lars Brechtel, der mit seinem Team für die medizinische Betreuung beim Berlin-Marathon verantwortlich ist:

Dr. Lars Brechtel vom SMS-Sportmedizin Berlin, dem offiziellen sportmedizischen Berater des Berlin-Marathon. (Copyright SCS-Events)

Dr. Lars Brechtel vom SMS-Sportmedizin Berlin, dem offiziellen sportmedizischen Berater des Berlin-Marathon. (Copyright SCS-Events)

Herr Brechtel, nun sind es nur noch wenig Tage bis zum Start des Berlin-Marathon. Was können Teilnehmer nun noch tun, um gesund ins Ziel zu kommen?
Wir müssen differenzieren. Das eine sind die sportlichen Fragen. Schaffe ich meine Bestzeit? Wie kann ich den Lauf genießen? Habe ich genug trainiert? Dazu lässt sich sagen: Sie brauchen gar nichts mehr außer Ruhe. Was Sie jetzt nicht in den Beinen haben, bekommen sie nicht mehr rein. Ein Nachholen von Training ist nicht möglich. Ich kann adäquat meine Kohlenhydratspeicher auffüllen und vermeiden, ein Flüssigkeits-Defizit über die Tage zu haben. Das andere sind medizinische Fragen. Wenn keine akuten oder chronischen Erkrankungen, Infekte oder Verletzungen vorhanden sind, was kann ich tun, um gesund zu bleiben? Auch wenn es bei der Anreise schwierig ist: Menschenansammlungen meiden so gut es geht, um sich nicht doch noch einen Infekt einfzufangen.
Noch mehr Händewaschen oder Desinfizieren als eh schon?
Wenn sie die normalen hygienischen Dinge tun, reicht das aus. Dennoch haben sie keine Chance, wenn sie einer in der U-Bahn anhustet.
Ist das Immunsystem von Sportlern in dieser Phase der Marathonvorbereitung geschwächt?
Eigentlich sollte es das nicht. Zu diesem Zeitpunkt sollte es sogar leicht gestärkt sein. Ein Problem ist nur, wenn sie in den Wochen zuvor so viel Training absolviert haben, dass ihr Immunsystem davon geschwächt ist.
Was kann ich am Tag vor dem Marathon tun, außer hoffen, dass ich mir nicht den Fuß umknicke?
Da können sie eigentlich gar nichts mehr machen. Kohlenhydrate, Flüssigkeitshaushalt – mehr ist nicht zu tun.
Wie sieht es mit der Nachtruhe aus? Viel? Weniger? Normal?
Versuchen, ganz normal zu schlafen. Das Problem wird sein, dass sie sich zeitig auf den Weg machen müssen für den Start um 9:00. Das heißt, der übliche Rhythmus kann durcheinander gebracht werden. Für Läufer aus anderen Zeitzonen sind die Probleme natürlich größer. Wenn die einen Jetlag haben – schwierig.
Was ist mit einem Glas Rotwein oder Bier zum Runterkommen am Abend?
Es ist die Frage, ob es hilft. Medizinisch würde ich dem Alkoholkonsum nicht das Wort reden wollen. Aber das sollte jeder für sich selbst entscheiden. Es wird die Leistungsfähigkeit nicht beeinträchtigen – wenn es denn bei diesen geringen Mengen bleibt. Befürworten kann ich es aus ärztlicher Sicht nun aber auch nicht.
Was sind die größten Fehler auf der Strecke, wenn es darum geht, gesund ins Ziel zu kommen?
Das hängt immer davon ab, welche medizinischen Fälle man betrachtet. Wenn es die Bagatellen sind, wie Hautabschürfungen, dann ist es doch die Vorbereitung. Gehe ich mit frisch gewaschener Wäsche an den Start? Gar mit Kleidung, die ich auf der Messe neu gekauft habe? Insbesondere Socken?
Bitte? Frisch gewaschene Socken sind ein Problem?
Ja, durchs Waschmittel können Socken rauer werden, das kann zu Blasen führen. Das mag nicht nur zur Freude bei meinen Mitmenschen führen, für Ihre Füße sind aber getragene Socken besser. Selbstverständlich auch keine neuen Schuhe. Das sind die Banalitäten.
Was sind die komplexeren Dinge?
Das Symptome nicht ernst genommen werden. Insbesondere von Männern nicht. Wenn ich Unwohlsein verspüre, Schwindel, Bewusststeinstrübung, den klassischen Brustschmerz mit einer Ausstrahlung in den linken Arm hinein, Luftnot und Übelkeit und Erbrechen – das sollte ich schon sehr ernst nehmen und entsprechende medizinische Hilfe in Anspruch nehmen. Aber auch, wenn ich zunehmend Probleme mit dem Bewegungsapparat bekomme. Klassisch sind Gelenkschmerzen oder Muskelschmerzen. Auch dann sollte man überlegen, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Wichtig ist auch Flüssigkeitsersatz, der aber auch nicht zu überdimensioniert sein soll, um eine Überwässerung zu vermeiden. Es sollte möglichst die Menge sein, die ich auch verliere. Das hätte man am besten im Training raus finden sollen.
Und die Menge Flüssigkeit hängt vom Wetter ab?
Genau, das natürlich auch. Bis hierhin sieht es für den Berlin-Marathon 2015 gut aus, so dass wir kühl starten und die Temperaturen im Laufe des Tages nicht allzu hoch gehen. Es ist aber nur eine Prognose.
Sie sagen, man solle auf Gelenkschmerzen achten. Ist es möglich, einen Marathon zu laufen, der nicht weh tut?
Ja. Es berichten immer wieder welche, die keine Probleme haben. Es gibt Individueen, die völlig ohne Probleme im Ziel ankommen.
Wenn ich ohne Schmerzen ab Kilometer 35 laufe, denke ich, ich bin zu langsam.
Ja, das kommt immer drauf an, was für Ziele sie haben. Auch die Top-Leute haben ihre Probleme, die natürlich nicht immer große medizinische Relevanz haben.
Wenn ich merke, dass ich ein Problem habe, ist medizinisches Personal also in der Nähe?
Ausreichend und an dieser Stelle muss man auch unsere Zuschauer loben, die noch viel näher dran sind und in den vergangenen Jahren gezeigt haben, dass sie sehr beherzt zugreifen können. Dabei ist auch nicht unwichtig, wie schnell und richtig wird der Notruf abgesetzt.
Wenn ich selber mitlaufe und sehe, dass ein Mitläufer nicht gut aussieht – was tue ich?
Sprechen sie ihn an, wie er sich fühlt und weisen sie notfalls auch medizinisches Personal auf einen solchen Teilnehmer hin.
Ereignen sich die meisten medizinischen Zwischenfälle im Marathon oder im Zielbereich?
Die Hilfeleistungen und die Einsätze von Rettungswagen sind meist im Zielbereich. Da sind auch unsere Strukturen stärker ausgeprägt. An der Strecke nimmt die Zahl der Hilfestellungen mit der Streckenlänge zu, aber die schweren Fälle sind zeit- und ortsunabhängig. Das kann jederzeit überall auftreten und ist auch unabhängig vom Wetter. Erschöpfungen und Deyhdration nehmen in den Jahren zu, wo das Wetter schwül und/oder warm ist.
Was ist mit dem Zielbereich? Dann ist doch alles egal, oder?
Das plötzliche Stehen bleiben oder Hinsetzen kann dazu führen, dass ich Probleme mit dem Blutdruck bekomme. Das langsame Weitergehen ist also nicht nur hilfreich, um den Zielbereich frei zu halten, sondern auch für sie selber gut. Versuchen sie, langsam weiterzugehen und nicht sich irgendwo hinzusetzen. Und nicht zu ungewohnte Dinge zu sich nehmen. Von unserer Seite sind wir im Zielbereich gut aufgestellt, wir haben vier Hochstühle, wie man sie vom Tennis kennt, von denen wir aus nach den Läufern schauen. Es gibt Intensiv-Bereiche, wir haben auch einen Bereich für Erschöpfungszustände. Wir können vor Ort für Blutanalysen durchführen wo wir mithilfe von tragbaren Blutanalyse-Systemen i-STAT  beispielsweise Natriumwerte prüfen können.
Hier noch zwei Fragen aus dem Publikum: 1.) Wie sinnvoll ist es überhaupt, Bananen zu essen? Deren Energie braucht doch Stunden, um im Körper umgewandelt zu werden.
Eigentlich werden die Kohlenhydrate aus den Bananen recht rasch aufgenommen. Man darf sich natürlich auch keine Wirkung innerhalb von Minuten erhoffen. Drei Kilometer vor dem Ziel brauchen sie jedenfalls keine mehr zu sich zu nehmen. Da ist alles vorbei dann. Auch das sollten sie im Training möglichst ausprobiert haben. 
Zweite Publikumsfrage: Wie viele Sachertorten kann man essen beim Marathon?
WÄHREND des Laufens???
Vor, während, danach. Jede Antwort gilt. 
Sagen wir so: Nach so einem Rennen dürfen sie, wenn ihr Magen- und Darmtrakt das verträgt, essen was sie wollen. Am Tag zuvor kann ich vielleicht auch noch ein Stück Sachertorte essen, wenn ich das unbedingt brauche, es hilft allerdings nicht wirklich beim Auffüllen der Kohlenhydratspeicher…. Am Tag selbst und während des Laufs würde ich davon natürlich dringen abraten! Aber die Frage war ein Witz, oder?
Ich fürchte nein. Haben Sie noch Tipps, die Sie Teilnehmer des Berlin-Marathons mit auf den Weg geben möchten..
Einen für die Zukunft: Dass sich jeder untersuchen lässt, ob er die gesundheitlichen Voraussetzungen mitbringt, so eine Belastung gesund zu überstehen. Und dass all die, die sich jetzt noch mit einem Infekt plagen oder eine kleine Verletzung zuziehen, sich bei uns auf der Messe Berlin Vital beim Ärzteteam in der Sprechstunde melden, um zu besprechen, ob der Teilnehmer starten oder im eigenen Interesse besser – wenn auch schweren Herzens – absagen sollte. 
Die schwerste Entscheidung von allen.
Ja, das ist sie. Aber wenn ich jetzt einen Infekt habe, dann besteht ein Risiko für eine Herzmuskelentzündung, die im schlimmsten Fall zu einem plötzlichen Herztod führen kann. Wir sind gut aufgestellt mit dem medizinischen Team, aber am Ende trägt auch jeder Läufer Verantwortung für sich selber. Ich sage es immer so: Es gibt viele Marathonläufe, aber nur ein Leben.

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Alle Kommentare [5]

  1. Danke für die Tipps zum Marathon! Mein Kollege ist in einem Sportverein und hatte schon viele Verletzungen. Sogar bei der Sportzahnmedizin hat er nur gute Erfahrungen gemacht. Cooler Tipp mit den Sock!
    LG

  2. Das mit dem Problemfall „frisch gewaschenen Socken“ kannte ich bisher noch nicht. Aber es ist auf jeden Fall mal interessant es zu testen. Und natürlich wünsche ich dir auch viel Erfolg dabei!

  3. Ich als Triathlet gelte bei vielen Bekannten und Kollegen eh als bekloppt,… also werde ich auch zum Berlin Marathon mal wirklich etwas beklopptes wagen! Ja! – ich starte einen Selbstversuch und – wieder starte – mit gewaschenen Socken! Ich weiß, es ist gewagt, aber ich bin dazu bereit. Die Waschmaschine läuft bereits…das Abenteuer kann beginnen 🙂

  4. @anetteundiwan nein, das ist sicher viel kleines 1×1, dass erfahrene läufer wissen, aber es gibt sicher immer noch genug debütanten, die dort das ein oder andere wichtige erfahren. mir selber ist die sockenstory in vier jahren marathon noch nicht untergekommen. ich war angemessen verblüfft. ist aber ein alter hut. so kann es kommen. der sachertortenaspekt hingegen dürfte ziemlich exklusiv sein.

  5. Interessante, nicht ganz neue Ansichten und Tipps. Das mit der Sachertorte gerade selbst ausprobiert – war hervorragend zur Regeneration nach einem heftigen Trailrennen 🙂
    In dem Sinne allen Startern in Berlin einen erfolgreichen Lauf!