Mein erster „Ironman“ Theorie und Praxis. Der Schweinehund muss raus. Oder vielmehr rein. Ins kalte Wasser.

Theorie und Praxis.

In der Theorie handelt sich bei den sogenannten „Ironman“-Wettbewerben (Die Bezeichnung ist geschützt) um Nachfolger des 1978 erstmals ausgetragenen Wettstreits zwischen Schwimmern, Radfahrern und Läufern, die herausfinden wollten, wer denn nun eigentlich fitter sei. So kombinierten sie am 15. Februar 1978 die Strecken des Waikiki Roughwater Swim (3,8 km), das Radrennen „Ride around the Island“  mit 180 Kilometer und des Honolulu-Marathon mit den seit den alten Griechen sattsam bekannten 42,195 Kilometern. Gewonnen hat ihn übrigens in 11 Stunden, 46 Minuten und 58 Sekunden ein gewisser Gordon Haller. 15 Starter waren dabei, 12 schafften es bis in Ziel.

In der Praxis heißt das für mein Leben, dass ich am 2. Juni 2013 bei rund 10 Grad Außentemperatur um 7 Uhr morgens  mit 70 anderen Männern und Frauen in Neoprenanzug am Stichkanal in Hannover Ahlem stehe und den Worten des Kampfrichters bang lausche. Das Wasser hat 14,8 Grad Celsius. Das heißt: 0,8 Grad weniger und das Schwimmen müsste ganz abgesagt werden. Wir haben Glück, wir dürfen die Hälfte absolvieren, also 1,9 Kilometer. Aufs Einschwimmen wird einstimmig verzichtet. Rein und Startschuss. Ich frage meinen Schweinehund nicht mal. Ich springe rein. Die anderen tun’s  auch, dann muss es gehen.

In der Theorie sind die Neoprenanzüge, die man in den eher gemäßigten Zonen bei diesen Wettbewerben sieht, einzig dazu da, die Athleten vor Kälte zu schützen. Dass sie schneller machen, wird nur allzu gerne in Kauf genommen. Bei manchen Wettbewerben zittern einige Teilnehmer, ob der Neo gar verboten wird, weil sie zwar nicht erfrieren, aber wertwolle Minuten einbüßen würden. In der Theorie wärmt auch die einlaufende Wasserschicht den Athleten, nicht das Material, sie darf nur nicht zirkulieren.

In der Praxis heißt das für mich: Wären mehr Körperteile von dem Wasser als Gesicht, Hände und Füße direkt umspült, dann würde ich wohl binnen Minuten völlig unterkühlen. Mein Anzug ist nur einen Millimeter dick – weniger geht nicht. So dauert es die gut 34 Minuten, die ich für vorgegebenen 1900 (dank erheblichen Zickzackkurses aber eher 2000 Meter) benötige, bis ich gut durchgekühlt bin. So kühl, dass beim Wechsel von dem Neoprenanzug in die Radkleidung die Unterlippe das schnellste ist, was ich an diesem Tag bewege. Sie zittert.

In der Theorie ist Triathlon ein Freiluft-Ausdauersport. Sommer, Sonne, Heiterkeit.

In der Praxis ist nun ausgerechnet dieser 2. Juni beim Wasserstadt-Limmer-Triathlon so ausgekühlt, dass Neoprenüberzieher und Handschuhe aus der Abteilung Winteroutfit für die 180 Kilometer Rad genau recht sind. Ich bin mehr als 6 Stunden auf dem Rad – ich habe das nicht eine Sekunde bereut. Schon nach einer Stunde kann ich die Füße wieder gut fühlen.

In der Theorie ist ein Ironman auch so eine große Herausforderung, weil bei DEM Ironman auf Hawaii Hitze die Athleten zermürbt. Nicht weniger gefürchtet ist der Wind, der Mumuku, der so einen lieben Namen trägt, aber böse die Hitze ins Gesicht pustet.

In der Praxis hat Hannovers Umland an diesem Tag keinen so hübsch benamten Wind, dafür ist der sehr kalt. Die Windräder drehen sich zur Freude der Befürworter der erneuerbaren Energie mit voller Geschwindigkeit. Davon konnte bei mir keine Rede sein. Schafft der Wind Böen von bis zu 50 km/h, schaffe ich gegen ihn gerade mal die Hälfte, manchmal mehr, manchmal weniger. Ich ducke mich so gut es geht auf dem speziellen Triathlonlenker, der mir eine windschnittigere Position verschaffen soll.

In der Theorie sah es so aus, dass der Wind zumindest stabil bleibt, was seine Richtung angeht, so hatte es der Wetterbericht vorhergesagt.

In der Praxis stellt sich in der sechsten und letzten Runde a 30 Kilometer heraus, dass er dreht. „Wind of Change“ von den Scorpions drang irgendwann im Laufe des vormittags an mein Ohr. Die Veranstalter womöglich, die als humorvolle Lokalpatrioten den Song der Scorpions im Zielbereich, den ich sechsmal passiere, einspielen. Danke.

In der Theorie heißt es, ein Ironman wird im Kopf entschieden. Die Ruhe bewahren, sich die Kräfte einteilen, das predigt im Grunde jeder, der einen absolviert hat.

In der Praxis heißt das, dass mich das das verkehrserzieherische Warnschild „Eile tötet“ genau daran erinnert – haue ich jetzt voll rein, sterbe ich beim Marathon. Ich bleibe also entspannt, trete locker, geradezu leicht, versuche eine schmerzende Laktatbildung zu meiden wie der Teufel das Weihwasser – und bin entsprechend langsam. Auf der vierten Runde mischten sich die mehr als 400 Starter der Mitteldistanz (1,9km Schwimmen, 90km Rad, 21 km Laufen) in die Piste.

Muskulöse bärige Typen rasen an mir in engen Trikots und Shorts vorbei, pfeilschnell. Ich fühle mich augenblicklich wie ein bepackter Muli in meiner flatternden Laufjacke und den zig Trinkflaschen am Rad. Ruhe bewahren, nicht verleiten lassen, kein Testosteron-Wettkampf. Der Schweinehund will Gas geben, darf er aber nicht. Er muss noch laufen. Den Marathon.

In der Theorie ist ein Ironman ein Dreikampf, jede Disziplin für sich ein einzelner Wettkampf.

In der Praxis beginnt für mich der Wettkampf mit dem Laufen erst so recht. Denn erst jetzt, nach gut 7 Stunden auf der Strecke zeigt sich, was die rund 3500 Trainingskilometer zu Wasser und Lande in 200 Stunden dieses Jahr allein wert waren. Viel. Die ersten 10 Kilometer laufen prima, fast zu gut. Angst vor der eigenen Courage, Angst vor dem, was auf den letzten 20 Kilometer passieren könnte. Die Beine werden schwer, das Tempo wird langsam, durchkommen – das ist alles, was zählt, ich pfeife bei Kilometer 25 auf alle Zeitziele, die ich mir gesetzt habe. Hätte ich nicht müssen, es lief gar nicht so schlecht. Aber ich muss aufs Klo, ich mag keine Gele mehr sehen, die Cola ist an den Verpflegungsstation alle. Die Pinkelpause nutzen Kinder zum Spott, die Fotos, die die Streckenfotografen von mir in Abständen von einer Stunde schießen, zeigen, wie ich langsam die Spannung im Körper verliere. Und sie dann doch wieder gewinne. Fünf Kilometer vorm Ziel ist klar – das geht nicht mehr schief. Ich spüre noch Körner an Kraft, ich rufe den Freizeitläufern auf dem Spazierweg rund um den Herrenhäuser Garten ein beherztes „Platz da“ zu und hole noch mal ein paar Sekunden raus.

Ziel.

Ich bin da. Ich stehe. Ich lache. Ich weine. Ich hab’s geschafft. Zwei Jahre zwischen Wunsch und Wirklichkeit.

In der Theorie war alles klar, in der Praxis hieß es, diesem Ziel treu zu bleiben, ihm manches, aber nicht alles unterzuordnen. Den Schweinehund immer wieder zu bekämpfen für dieses eine Ziel.

In der Theorie hat ein Ironman 3,8 Kilometer Schwimmstrecke, 180 Rad und 42 Laufen. In meiner Praxis hatte er 1,9 Kilometer weniger Schwimmstrecke. Macht nix. Ich habe mein Ziel erreicht.

In der Theorie ist und war der Wettbewerb eine komplett irre Idee. In der Praxis auch.

Und deswegen mach‘ ich das auch noch mal.

Für alle Interessierten: Hier die Link zu den GPS-Daten meines Wettkampfs:

Schwimmn: https://connect.garmin.com/activity/322356004

Radfahren: https://connect.garmin.com/activity/322356012

Laufen: https://connect.garmin.com/activity/322356026

 

 

 

 

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Alle Kommentare [1]

  1. Well done. Gut gemacht. An dieser Stelle noch einmal Glückwunsch. Glückwunsch zum finishen und zur eisernen Disziplin 🙂