Buchauszug Lily Brett: „Immer noch New York“ – Das höfliche Geschiebe und Gedränge bei Grand Central

Ausnahmsweise hier ein Buchauszug, der zwar kein Sachbuch ist, aber interessante Seiten über den Weg der New Yorker zur Arbeit beschreiben – zumindest, wenn er über die Grand-Central-U-Bahn-Station führt.

„Lily Brett, die australische New Yorkerin mit europäischen Wurzeln, steckt mittendrin, und um die Stadt einzufangen, hält sie sich selbst den Spiegel vor. Hinreißend erzählt sie von ihren Nöten, einen halbwegs anständigen Büstenhalter im Greenwich Village zu erstehen, vom befremdlichen Anblick der Schoßhündchen in Regenmänteln und Sonnenbrillen, vom überbordenden Großstadtverkehr. Und zum Glück gibt es in dieser ziemlich hektischen Stadt auch Winkel der Ruhe und des Friedens, den Geruch von frisch gebackenem Brot. Denn in Manhattan ist nichts unbedeutend und nichts selbstverständlich. Lily Bretts Kolumnen sind Klassiker. Denn in der tragikomischen Mischung aus Autobiografie und kleinen Alltagsvignetten schimmern die großen Themen des Lebens durch.“ Eine Leseprobe.

 

Lily Brett: Immer noch New York

Lily Brett: Immer noch New York

Ein Ziel – und einen Plan brauche ich
Wenn ich in New York spazieren gehe, habe ich dabei gern ein Ziel. Egal, wo ich spazieren gehe, ich habe immer gern ein Ziel. Ich bin keine ziellose Spaziergängerin. Keine von denen, die planlos von hier nach da schlendern können. Ich brauche immer einen Plan. Ohne Plan bin ich hilflos.

Ich plane alles. Ich plane meinen Tagesablauf. Ich plane Diäten. Ich mache Pläne für meine Anrufe. Ich mache mir Notizen zu den Dingen, die ich mit verschiedenen Freundinnen besprechen will. Ich mache mir Notizen zu den Dingen, die ich meinen Arzt, meinen Zahnarzt, meine Fußpflegerin fragen oder die ich mit ihnen besprechen will. Und zu den Dingen, die ich mit meinem Mann, meinen Kindern und meinem Vater besprechen will.

 

Frische Pastrami von Katz´s Deli

Dad fragen, ob er noch mehr Wedel-Schokolade braucht, wäre beispielsweise eine typische Notiz. Wedel ist die polnische Schokolade, die mein Vater schon als Kind aß. Letzte Woche hatte ich mir eine Notiz gemacht, dass ich ihn fragen wollte, ob er außer der Schokolade Lust auf frisches Pastrami von Katz’s Deli habe. Er wollte beides, und deshalb musste ich erst zu dem polnischen Feinkostgeschäft an der First Avenue und danach zu Katz’s an der East Houston gehen. Das ist ein Spaziergang von mehr oder weniger fünfzig Minuten, der mich durch das East Village und ans Ende der Lower East Side führt.

Ich weiß, dass es viele Dinge gibt, die selbst den besten Plan durchkreuzen können. Aber ich plane mit Umsicht. Vor allem meine Spaziergänge. Ich gehe nicht gern auf Entdeckungsreisen.

 

Mein neuestes Lieblingsziel: Die Grand Central Station

Es gefällt mir, auf dem Weg zu einem bestimmten Ziel Entdeckungen zu machen. Mein neuestes Lieblingsziel ist Grand Central Station. Oder, wie der Bahnhof offiziell heißt, Grand Central Terminal. Der Spaziergang von meinem Zuhause in SoHo dorthin dauert etwa fünfzig Minuten.

Bei schlechtem Wetter kürze ich den Spaziergang manchmal ab und fahre den Rest der Strecke mit der Subway. Ich fahre gern mit der Subway. In der Subway ist man unzweifelhaft in New York. Die New Yorker Subway ist so typisch für New York. Sie ist zuverlässig, schnell und von Menschen aus aller Herren Länder bevölkert.

Fast vierzig Prozent aller New Yorker stammen nicht aus New York. Von den Einwanderern wiederum kommen um die zweiunddreißig Prozent aus Lateinamerika, sechsundzwanzig Prozent aus Asien, zwanzig Prozent aus nichtspanischen karibischen Nationen, siebzehn Prozent aus Europa und vier Prozent aus Afrika. Diese enorme Vielfalt macht New York City zu einer der großartigsten Städte unseres Planeten.

Einer meiner verwegensten Pläne ist es, eines Tages mit jeder Subway-Linie New Yorks von einer Endhaltestelle zur anderen zu fahren.

Es erdet mich, in der Subway zu sein. Ich fühle mich eins mit allen anderen. Eins mit einer großen Menschheit. In der Subway trennen uns keine Alters-, Herkunfts-, Geschlechts- oder Religionsschranken. Wir sind zusammen. Oft genug eng Aneinander gequetscht.

 

Nie allein in der Subway

Ich habe mich schon auf Sitze zwischen Fremden gequetscht, deren Leben sich ansonsten niemals mit meinem berührt hätten. Und das ist ein wunderbares Gefühl. In der Subway fühle ich mich nie allein. Oder gar einsam. Ich verspüre ein Gefühl der Zugehörigkeit, was für mich ein sehr seltenes Gefühl ist.

Mehrere Jahre lang war ich nicht imstande, die Subway zu nehmen. An der Subway lag es nicht. Vielleicht ging es dort etwas ruppiger zu als heute, aber Millionen Menschen nehmen sie jeden Tag. Nein, es lag an mir. Ich konnte mich nicht von dem Gefühl befreien, dass ich mich im Untergrund befand, unter dem Erdboden, unterhalb all dessen, was lebendig war. Jedes Mal wenn ich versuchte, die Treppe zur Subway hinunter zu gehen, war mir zumute, als würde ich begraben. Außer jeder Reichweite. Ich war so froh, als dieses Gefühl sich irgendwann legte.

Ich bin stolz darauf, dass ich meinen Weg  vom Ausgang der Subway an Grand Central bis zur Bahnhofshalle im Griff habe. Es ist nicht besonders schwierig, sich bis zur Halle hindurch zu lavieren, aber außer bei Auseinandersetzungen bin ich sehr schlecht darin, mich durch irgendetwas hindurch zu lavieren.

 

Das höfliche Geschiebe und Gedränge

Ich liebe die Atmosphäre von Bahnhöfen. Ich liebe die Geschäftigkeit und das Gedränge von Abfahrt und Ankunft. Besonders an Grand Central. Es ist ein höfliches Geschiebe und Gedränge. Es gibt keinen Stress, keine Hysterie und meistens keinen Ärger.

Es ist so anders als die angespannte und nervöse Atmosphäre an fast jedem größeren Flughafen der Welt. Niemand schubst, niemand drängelt. Niemand wirft einem sein Gepäck auf die Füße. Vor zwei Jahren hat ein Mann, der in der Warteschlange am Check-in für einen Flug von New York nach Seattle vor mir stand, seinen Koffer auf mein Bein fallen lassen und mir dann beteuert, dass es sicher nicht wehgetan habe. Heute habe ich noch immer einen blauen Fleck am Bein.

Grand Central Station gilt manchen als der größte Bahnhof der Welt, als der schönste Bahnhof der Welt und als der geschäftigste Bahnhof der Welt. Geschäftig mag es dort zugehen, aber man spürt es nicht. Dieser sehr geschäftige Bahnhof wirkt ziemlich friedlich und zivilisiert.

Bettina Strauss

Bettina Strauss

 

750.000 Fahrgäste und über 750 Züge täglich

Jeden Tag verkehren mehr als siebenhundertfünfzigtausend Leute an diesem Bahnhof und mehr als siebenhundertfünfzig Züge kommen an und fahren ab. Grand Central hat vierundvierzig Bahnsteige und siebenundsechzig Gleise. Ich liebe es, solche Dinge zu wissen. In nicht allzu ferner Zeit wird die Long Island Rail Road eine neue Station unterhalb der Gleise von Grand Central eröffnen. Dann wird Grand Central fünfundsiebzig Gleise und achtundvierzig Bahnsteige haben.

Der Bahnhof ist sehr groß. Größer als achtundvierzig Morgen Land. Mit den hohen Deckengewölben und seinen gigantischen Ausmaßen ist er auch sehr schön. Er ist elegant und nimmt sich anmutig und zugleich solide aus. Alles an Grand Central ist robust. Nichts macht den Eindruck, provisorisch oder nicht für die Dauer gebaut zu sein. Der Bahnhof wurde 1913 errichtet, und er wirkt, als hätte es ihn schon immer gegeben. Und als würde es ihn immer geben. Grand Central ist mehr als ein Bahnhof. Es ist eine kleine Stadt in einer größeren Stadt. Es gibt einen Ableger des Verkehrsmuseums, es gibt Bäckereien, Cafés, Zeitungskioske, einen Gemüsemarkt und fast genauso viele Läden wie in SoHo. Man kann Fastfood oder gesundes Essen in dem Dining Concourse kaufen, der sich in dem Geschoss unterhalb des Erdgeschosses befindet, oder man kann die Oyster Bar besuchen.

 

Alle sind zu allen höflich

Die Oyster Bar ist berühmt. Sie ist ein großes Restaurant für Meeresfrüchte und eine New Yorker Institution. Wie den ganzen Bahnhof gibt es sie seit 1913. Das Restaurant ist groß, aber es ist weder unpersönlich noch chaotisch. Man kommt sich dort vor, als speiste man in einer anderen Zeit. Alle sind zu allen höflich. Die Kellner tragen Uniform. Niemand wird laut.

 

32 verschiedene Sorten Austern

Die Speisekarte ist endlos lang. Als ich zuletzt nachzählte, gab es allein zweiunddreißig verschiedene Sorten Austern. Ich liebe Meeresfrüchte. Ich esse kein rotes Fleisch und nur selten Geflügel. Nicht weil ich ein Tierfreund wäre. Das bin ich nicht. Mir gefällt nur die Vorstellung nicht, etwas zu töten, um es zu essen. Unlogischerweise kommen Fische in meinem Denken nicht vor. Und obwohl ich kein Fleisch esse, koche ich welches.

Ich hätte fast aufgehört, Fisch zu essen, als ich einen Fisch sah, den mein Mann am Strand von Long Island gefangen hatte. Der arme Fisch zappelte mindestens eine Minute lang mit dem Kopf nach unten, bevor er einen kleineren Fisch erbrach und ohnmächtig wurde. Ich hatte nicht gewusst, dass Fische sich übergeben können. Wahrscheinlich hat er sich unter Schock übergeben. Es dauerte einige Monate, bis ich wieder Fisch essen konnte.

 

Der Biskuitkuchen von Moishe´s Bake Shop an der Second Avenue

Der Ort in Grand Central, den ich unbedingt aufsuchen muss, ist der Markt. Dort gibt es eine Auswahl der Dinge, die ich am liebsten mag. Brot, Käse, Fisch, Nüsse, Schokolade und Kuchen. Mein Vater liebt Kuchen. Ganz besonders liebt er Biskuit. Er spricht das amerikanische Wort für Biskuit, »sponge«, so aus, dass es sich auf »lunch« reimt. Der Biskuitkuchen aus Moishe’s Bake Shop an der Second Avenue war sein größter Favorit. Aber letztes Jahr wechselte er plötzlich zu einem chinesischen Biskuitkuchen mit Zitronenaroma aus einer Bäckerei namens Lucky King and Dragon Land über.

Dann kaufte ich ihm eine Schnitte von Eli Zabars Napfkuchen in dem Markt in Grand Central. Er war begeistert und nannte diesen Kuchen den »schweren Biskuitkuchen« im Unterschied zu dem chinesischen Kuchen, den er fortan den »nicht so schweren Biskuitkuchen« nannte.

Zu häufige Besuche bei Eli Zabars Brot- und Gebäckstand stellen eine Gefahr für mich dar. Die Brötchen mit Rosinen und Pekannüssen sind eine schwere Versuchung. Ich versuche, mich auf ein Brötchen zu beschränken. Und das Brot mit Rosinen und Pekannüssen kaufe ich nie, weil ich fürchte, ich könnte es auf dem Nachhauseweg zur Hälfte aufessen.

 

Sehkraft testen oder Schuhe reparieren lassen im Grand Central

Man könnte all seine Einkäufe in Grand Central erledigen. Es gibt dort alles. Es gibt einen Apple Store und eine Bank. Man kann seine Sehkraft testen und seine Schuhe reparieren lassen. Und fast alles kaufen, was man braucht. Und es gibt Frankies Dogs on the Go. Als ich die Anzeige zum ersten Mal sah, dachte ich, es handele sich um einen Hundesitter, wo man seinen Hund auf dem Weg zur Arbeit abgeben und abends wieder abholen könnte. Aber Frankies Dogs on the Go ist ein Hot-Dog-Laden.

Man kann in Grand Central seinen Tennis- oder Squashschläger auf dem Weg zur Arbeit abgeben und abends neu bespannt abholen. Grand Central Racquets gibt es seit 1933. Grand Central Racquets ist offenbar für alle Arten von Sport, für die man Schläger benötigt, zuständig, ob Tennis, Squash, Racket, Badminton oder Hallentennis. Was Hallentennis ist, weiß ich nicht, aber ich vermute, dass es nichts mit der Markthalle von Grand Central zu tun hat.

Trotz des Vorhandenseins und offenbaren Erfolgs von Grand Central Racquets fällt es mir schwer, mir New Yorker Arbeiter vorzustellen, die auf dem Weg zur Arbeit an Tennis oder Squash oder Badminton denken. Die meisten New Yorker sind auf dem Weg zur Arbeit nicht besonders entspannt.

 

Ein Tennisclub namens Vanderbilt

Die Stadt ist offenbar sportlicher, als es den Anschein hat. In Grand Central Station habe ich einen Tennisclub entdeckt. Den Vanderbilt Tennis Club. Das ist kein gewöhnlicher Tennisclub. Die Räume haben eine Deckenhöhe von fast zehn Metern und einen Tennisplatz, der für die US Open qualifiziert wäre.

Für zweihundertfünfundzwanzig Dollar kann man ein Feld für drei Stunden mieten. Für 300 Dollar kann man drei Stunden Einzelunterricht nehmen. Als Mitglied des Vanderbilt Tennis Club kann man nicht nur die Spielfelder nutzen, sondern auch Fitnessräume sowie New Yorks einzige Anlage, mit der man seine Schlagtechnik per Video in Zeitlupe analysieren kann.

Ich glaube, ich werde trotzdem widerstehen. Ich habe noch nie Tennis gespielt. Und ich werde jetzt nicht damit anfangen, selbst wenn mehr New Yorker, als ich für möglich gehalten hätte, ihre Tennisschläger neu bespannen lassen und sich ihre Schlagtechnik auf einem Video in Zeitlupe ansehen.

Lily Brett: „Immer noch New York“, 223 Seiten, 19,95 Euro: http://www.suhrkamp.de/buecher/immer_noch_new_york-lily_brett_42467.html

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