Buchauszug Hermann Simon: „Zwei Welten, ein Leben. Vom Eifelkind zum Global Player.“

Buchauszug Hermann Simon: „Zwei Welten, ein Leben. Vom Eifelkind zum Global Player“. Der Managementdenker und Pricing Experte erzählt in seiner Autobiographie, wie er seine Unternehmensberatung Simon Kucher & Partners zum Weltmarktführer für Preisberatung mit 37 Büros in 24 Ländern machte. 

 

 

AUF ADLERS FLÜGELN

Mühsam nährt sich das Eichhörnchen

Neben meiner wissenschaftlichen Forschung war ich stets bemüht, Kontakte zur Praxis herzustellen. Die Reputation und das Beziehungsnetzwerk von Professor Albach erwiesen sich in dieser Hinsicht als hilfreich. Er setzte mich in Managementseminaren
ein. Ich konnte an Gutachten mitarbeiten. Auch darüber hinaus gab es zahlreiche Kontakte zu Unternehmen. Mit der Ernennung zum Professor an der Universität Bielefeld intensivierte ich meine eigenen Bemühungen um eine praxisorientierte Forschung und Lehre. Unternehmen kamen mit der Bitte auf uns zu, ihnen bei
der Lösung konkreter Marketingprobleme zu helfen. So entstanden kleinere Consulting-Projekte.

 

Projekt: BASF

Für meine weiteren Planungen war ein Projekt ausschlaggebend, mit dem mich die in Münster ansässige Industrielacke-Sparte der BASF AG beauftragte. Es hatte ein für meine damalige Situation sehr hohes Volumen von 125 000 D-Mark (circa 62 500 Euro). Durch Einsatz moderner statistischer Methoden wie multidimensionale Skalierung und Diskriminanzanalyse entwickelten wir für die BASF eine komplexe
Kundensegmentierung, die auf Verhaltensunterschieden der Kunden basierte, für die Mitarbeiter jedoch einfach zu handhaben war. Aus der Segmentierung ergaben sich Konsequenzen für die Produkt- und Preisdifferenzierung sowie für die Vertriebsorganisation.

Kunden, die bestimmte Merkmale hinsichtlich ihres technischen Anspruchsniveaus und ihres Einkaufsvolumens erfüllten, wurden von einer zentralen Organisation mit entsprechend hoher technischer Kompetenz bedient. Kunden mit einfacheren
Anforderungen, größerer Preisempfindlichkeit und geringeren Einkaufsvolumina blieben in der Obhut der regionalen Vertriebsniederlassungen. Wir besuchten mehr als hundert Unternehmen, die Industrielacke einsetzten (zum Beispiel die Firma Deutsche Waggonbau in Berlin oder den Schaltschrankhersteller Rittal in Herborn) und führten dort extensive Interviews durch.

 

Der notwendige Grad an Vetraulichkeit

Die operative Betreuung lag bei meinem ersten, damals noch nicht promovierten Assistenten Eckhard Kucher. Er wickelte das Projekt mit größter inhaltlicher und methodischer Sorgfalt sowie absoluter Zuverlässigkeit ab. Die Akzeptanz durch den Klienten BASF und die Erfahrung, dass wir ein solches Projekt »stemmen« konnten, waren für mich selbst und Eckhard Kucher eine starke Bestätigung. Allerdings lernte ich aus diesem Projekt auch, dass man solche Vorhaben aus der Universität heraus nicht wirklich professionell und mit dem notwendigen Grad an Vertraulichkeit durchführen kann.

Die Mitarbeiter an dem Projekt wurden ordentlich bezahlt. Wir nahmen keine nennenswerten Ressourcen der Universität in Anspruch, allenfalls etwas Computerzeit.
Dennoch fühlte ich mich in der Universität mit derart hochvertraulichen Daten und Strategieempfehlungen nicht wohl. Wenn wir den Gedanken der Unternehmensberatung ernsthaft verfolgen wollten, schien es ratsam, eine Organisation außerhalb der Hochschule aufzustellen. Doch erst einmal war ich ein junger Professor und primär mit dem weiteren Auf- und Ausbau meines Lehrstuhls
beschäftigt. Eine hohe Priorität hatte für mich die Forschung. Aber der Samen der Beratungsidee war im Boden, und dort keimte er weiter.

 

Der Ansporn: Die beendeten Projekte und die Nachfrager

Zunächst stand jedoch ein Forschungssemester in Japan an. Am
21. November 1983 schrieben mir Eckhard Kucher und Karl-Heinz Sebastian, mein zweiter Assistent, einen längeren Brief. Sie reflektierten die Eindrücke von der Marketing-Services-Messe in Frankfurt/Main, bei der wir einige Monate vorher mit einem Stand vertreten gewesen waren. Unser Motto »Entscheidungsunterstützung im Marketing« stieß bei den Messebesuchern auf große Resonanz. Viele erkundigten sich, ob wir auch Beratung anböten. Die Erfahrungen aus unseren gemeinsam durchgeführten Beratungsprojekten und die Eindrücke dieser Messe waren für die beiden Assistenten Ansporn, der zu einem zukunftsweisenden Vorschlag führte.

Sie schrieben: »Wir wollen an dieser Stelle einmal grundsätzlich mögliche Ideen, Überlegungen und Vorschläge zu den Perspektiven einer zukünftigen beruflichen Zusammenarbeit ansprechen. Die Marketingmesse hat gezeigt, dass ein Nachfragepotenzial nach Analyseleistungen vorhanden ist. Für Sie sicherlich nichts Neues. Wir sind der Auffassung, diesen Aspekt für die Zeit nach Abschluss unserer Dissertationen näher ins Auge zu fassen. Diese Nachfrage beziehungsweise die Stimulierung neuer Nachfrage könnten wir am besten im Team managen. Wir sehen das bisherige Lehrstuhlteam, Simon-Kucher-Sebastian, aus mehreren Gründen für geeignet an, diese sich bietenden Chancen erfolgreich wahrzunehmen. Als Team würden wir uns durch folgende Eigenschaften auszeichnen:

●● Eine gute und fundierte Ausbildung auf dem Gebiet der quantitativen Marketingforschung und Entscheidungsfindung.

●● Stark ausgeprägte Praxiskontakte.

●● Synergistische Effekte, die einerseits fachspezifischer Art und zum anderen persönlicher Natur sind.

Insgesamt gesehen sind wir auf diesem Gebiet ein Anbieter von Analyseleistungen, der zurzeit keine wesentliche Konkurrenz zu fürchten hat. Aus diesen Gründen sehen wir die Bildung eines Teams für eine zukünftige Zusammenarbeit als Chance für alle Beteiligten an.

Diese Gedanken fielen bei mir auf fruchtbaren Boden. Eine Woche lang überdachte ich das Thema und antwortete am 1. Dezember, dass ich die von den beiden Assistenten vorgetragene »Vision« mit Freude begrüße. Ich schlug vor, dass wir uns nach meiner Rückkehr im Frühjahr 1984 zusammensetzen und ein konkretes Konzept entwickeln sollten. Ich war in der Tat sehr erfreut, dass die beiden Assistenten von sich aus auf mich zukamen.

Zwischen der Idee für eine Beratungsorganisation und der Umsetzung dieser Idee liegen Barrieren, zu deren Überwindung man Mitarbeiter braucht, die nicht nur die für einen Berater notwendigen Fähigkeiten besitzen, sondern auch den Mut haben, in ein Start-up einzutreten und quasi bei null anzufangen. Ein Start-up bedeutete für die beiden Assistenten die Akzeptanz eines hohen Risikos, während ich die Professur im Rücken hatte. Natürlich stand für mich die Reputation auf dem Spiel, aber das finanzielle Risiko beschränkte sich auf eine überschaubare Investitionssumme.

 

Die Lochmühle im Ahrtal – der Geburtsort unserer Pläne

Nach Japan verbrachte ich noch drei Monate an der Stanford University. Zurück in Deutschland setzten wir uns zu dritt zusammen, um ein Konzept zu schmieden. Die meisten unserer Treffen fanden in der Lochmühle im Ahrtal statt, die wir von Managementseminaren kannten. An diesem abgeschiedenen Ort konnten wir ungestört brainstormen und unsere Pläne konkretisieren. Da ich Lehrstuhlinhaber war, wollte ich nicht als Namensgeber der Firma erscheinen. So nannten wir die Firma UNIC. Dieses Kürzel stand für »University Connection« und sollte zum Ausdruck bringen, dass wir akademische Forschung aus der Universität auf die Lösung praktischer Probleme anwenden wollten. Im Untertitel nannten wir uns »Institut für Marketing und Management«.

Anfang 1985 legten wir los. Als Rechtsform wählten wir die GmbH, deren Gesellschafter mit gleichen Anteilen Kucher, Sebastian, meine Frau und ich waren. Als Startkapital legten wir insgesamt 100 000 D-Mark (circa 50 000 Euro) in die Firma ein. Wir mieteten ein kleines, preisgünstiges Büro am Rande von Bonn an. Die Standortentscheidung erklärt sich sehr einfach daraus, dass ich in Bonn wohnte. Das ist meine generelle Erfahrung mit Standortentscheidungen aller Art. Man muss nur herausfinden, wer den Standort bestimmt und wie die Präferenzen dieser Person aussehen.

Dann braucht man in der Regel nicht nach weiteren Erklärungen zu suchen. Wir arbeiteten sehr bescheiden und kostenbewusst. Das von mir stets geforderte Kostenbewusstsein erwies sich als nachhaltig, noch in einer Rede zu meinem 70. Geburtstag tauchte das Thema auf mich gemünzt wieder auf.

 

Das gefährliche, erste Jahr

Erster Mitarbeiter war Eckhard Kucher, der kurz vor dem Start seine Dissertation abgeschlossen hatte. Einige Monate später stieß Karl-Heinz Sebastian nach Vollendung seiner Dissertation hinzu. Wir heuerten die 23-jährige Christiane Nelles als Sekretärin an. Sie ist heute die Verwaltungschefin von Simon-Kucher. Die Gewinnung von Projekten bildete, wie bei jedem Start-up dieser Art, die große Herausforderung. Obwohl wir bereits über ein beachtliches Netzwerk verfügten, war es harte Arbeit. Projekte von 10 000 oder gar 50 000 Euro wurden als Riesenerfolge gefeiert. Die Aussage, dass sich das Eichhörnchen mühsam nährt, traf definitiv auf UNIC zu. Im ersten Jahr erzielten wir mit den drei Mitarbeitern einen Umsatz von umgerechnet 350 000 Euro. Diese Summe betrachteten wir als Erfolg und waren stolz. Das erste Jahr ist bekanntlich das gefährlichste für ein Start-up, und diese erste Hürde hatten wir überwunden.

 

Der geheime Wunsch: 1000 Mitarbeiter

Nur langsam ging es aufwärts. 1989 erlösten wir mit 13 Beschäftigten 2,2 Millionen Euro. 1994 hatten wir 35 Mitarbeiter, und der Umsatz betrug 5,9 Millionen Euro. Damals beendete ich meine Universitätskarriere. Als CEO führte ich Simon-Kucher & Partners von 1995 bis 2009. Ab 2009 war ich »Chairman« des Unternehmens und mit Vollendung meines 70. Lebensjahres im Februar 2017 wurde ich »Honorary Chairman«. Zu diesem runden Geburtstag hatte ich mir heimlich gewünscht, dass wir die Tausend-Mitarbeiter-Grenze durchbrächen. Bei der Geburtstagsfeier am 11. Februar 2017 verkündete CEO Dr. Georg Tacke, die Firma habe jetzt 1 003 Mitarbeiter. Im Geschäftsjahr 2017 erreichte der Umsatz 252 Millionen Euro. Per 2018 beschäftigen wir rund 1 200 Mitarbeiter in 37 Büros in 25 Ländern. Auf dem Gebiet der Preisberatung ist Simon-Kucher Weltmarktführer.

 

Eine Erwartung erfüllte sich allerdings nicht. Unsere ursprüngliche Absicht zielte auf den Einsatz ökonometrischer Methoden zur Entscheidungsunterstützung ab. Ökonometrie misst auf Basis historischer Daten die Wirkung von Preisen, Werbemaßnahmen oder Vertriebsaktivitäten. Unser besonderes Interesse galt dem Preis, dessen Wirkung in der Regel durch die sogenannte Preiselastizität gemessen wird. Eckhard Kucher hatte seine Doktorarbeit zu diesem Thema geschrieben. Er benutzte dabei neuartige Scanner-Daten.

 

Karl-Heinz Sebastian hatte analysiert, wie sich die Werbung auf die Ausbreitung von Telefonen auswirkte. Wir waren also forschungs- und kompetenzmäßig sehr gut für die Anwendung ökonometrischer Methoden aufgestellt. Eigentlich hätten wir aber wissen können, dass es für die praktische Anwendung Hindernisse gibt. Professor Lester G. Telser von der University of Chicago hatte das bereits 1962 vorhergesagt. Seine These war die folgende: Wenn die Preiselastizität in einem Markt hoch ist, beobachtet man nur geringe Abweichungen zwischen den Konkurrenzpreisen. In der Sprache der Ökonometrie ausgedrückt, zeigt die unabhängige Variable »Preis« eine zu geringe Varianz (Streubreite), um valide Schätzungen möglich zu machen. Ist die Preiselastizität aber gering, so weisen die Preise möglicherweise eine hohe Varianz auf, aber diese wirkt sich nicht signifikant auf die Absatzmengen aus, mit anderen Worten, die Varianz der abhängigen Variablen Absatz ist zu gering.

 

Der Ruf nach Beratern nach Strukturbrüchen

Von den mehr als 5 000 Pricing-Projekten, die wir seither in aller Welt durchgeführt haben, basierten nicht mehr als hundert auf dem ökonometrischen Methodenansatz. Neben den von Telser genannten Argumenten kommen zwei weitere hinzu. Für neue Produkte sind historische Daten von beschränktem Wert, oft sogar völlig wertlos. Des Weiteren werden aufwändige Preisanalysen vor allem dann durchgeführt und ein Berater wird hinzugezogen, wenn in der Sprache der Ökonometrie ein Strukturbruch stattgefunden hat, also beispielsweise ein neuer Wettbewerber in den Markt eintritt, Generika nach dem Ablauf eines Patentes erscheinen oder neue Distributionskanäle wie das Internet entstehen.

In all diesen Fällen geben die historischen Marktdaten wenig Aufschluss über die zukünftigen Preisreaktionen der Kunden. Im Zeitalter von Big Data dürfte die Ökonometrie wieder stärker zum Einsatz kommen. Im Internet lassen sich beispielsweise ohne großen Aufwand Preistests durchführen, bei denen man die gewünschte Streubreite der Preise künstlich erzeugen und die Wirkung auf den Absatz erfassen kann.

Statt der Ökonometrie setzten wir allerdings eine neuartige Methode, das Conjoint Measurement (Verbundmessung), in vielen Projekten ein. Diese Methode war mir erstmals während meines Forschungsaufenthaltes am Massachusetts Institute of Technology begegnet, allerdings in einer rudimentären Form, die Trade-off-Analyse genannt wurde. Man spricht von Trade-off (Abwägung) oder Verbundmessung, weil Nutzen- und Preisaspekte zusammen gemessen werden. Dazu legt man der Versuchsperson unterschiedliche Angebote vor und bittet sie, unter diesen zu wählen.

 

Jil Sander auf Brillen

Die Angebotsalternativen unterscheiden sich in Produktmerkmalen und Preisen. Aus den Urteilen der befragten Kunden lassen sich die Nutzenbeiträge der einzelnen Produktmerkmale sowie die Preisbereitschaft berechnen. Die Conjoint-Measurement-Methoden wurden ständig verbessert und erlebten schließlich mit dem Vordringen von Personal Computern, die wir bei Befragungen einsetzten, den Durchbruch. Eines unserer ersten Projekte dieser Art diente dazu, den Wert der Marke Jil Sander für Brillen zu messen. Zu diesem Zweck ließen wir tatsächlich Brillen unterschiedlicher Designs und Marken anfertigen.

Fortgeschrittene Varianten des Conjoint Measurement sind bis heute wichtige Werkzeuge für unsere Arbeit. Allerdings haben wir die Durchführung der Befragungen seit langem an Marktforschungsinstitute delegiert. Die Analysen bilden hingegen unsere Kernkompetenz und werden deshalb von uns selbst durchgeführt.

 

 

 

 

Hermann Simon: „Zwei Welten, ein Leben. Vom Eifelkind zum Global Player“ Campus Verlag, 352 Seiten, 32 Euro. https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wirtschaft-gesellschaft/gesellschaft/zwei_welten_ein_leben-14977.html

 

Im Jahr 1988 erfuhr unser Team eine entscheidende Verstärkung. Nach Abschluss ihrer Dissertationen stießen Dr. Georg Tacke und Dr. Klaus Hilleke hinzu. Tacke hatte zum Thema »Nichtlineare Preisbildung« promoviert. Seine Arbeit bildete – wie berichtet – die Grundlage für die Bahncard 50, die wir einige Jahre später für die Deutsche Bahn entwickelten. Hilleke beschäftigte sich in seiner Doktorarbeit mit Wettbewerbsstrategien im Pharmamarkt« und brachte seine Expertise in unser gut angelaufenes Geschäft mit der Pharmaindustrie ein. Solche hochkarätigen Experten hatten natürlich alternative Angebote. Um sie dennoch zu gewinnen und zu halten, boten wir ihnen nach kurzer Zeit die Partnerschaft in unserer Beratung an. Das Team Dr. Kucher, Dr. Sebastian, Dr. Tacke, Dr. Hilleke mit mir als Begleiter bildete den Kern des Unternehmens.

 

Lebenslanger Zusammenhalt

Ich bin stolz darauf, dass die Mitglieder dieses Teams ihr ganzes Berufsleben an Bord geblieben sind. Zwei Fotos der Stammmannschaft von Simon-Kucher aus den Jahren 1988 und 2015 belegen die Kontinuität: Zwischen den beiden – im Bildteil abgedruckten – Aufnahmen liegen 27 Jahre. Zwar hat die Zeit ihre Spuren hinterlassen, aber dem Zusammenhalt dieses Fünf-Mann-Teams konnte sie nichts anhaben.

 

Preisrat

Der Preis ist mir in tausend Varianten und unterschiedlichen Konstellationen begegnet, hat mir Spaß gebracht, mich herausgefordert, geärgert, er hat mir Kopfzerbrechen bereitet und mich manchmal hilflos gemacht. Es gab Heureka-Momente, in denen ich den Geheimnissen des Preises auf die Schliche kam. Ich erlebte Preistriumphe, wie beispielsweise 1992 die Einführung der Bahncard 50 oder deren Wiederbelebung in 2003 nach hartem Ringen mit dem damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn. Die erfolgreiche Durchsetzung eines vergleichsweise hohen Preises für die bei ihrer Einführung im Jahr 1998 revolutionäre Mercedes A-Klasse machte mich stolz.

Höhepunkte waren die Preisstrategien, die wir für neue Modelle von Porsche entwickelten, wobei sich Wendelin Wiedeking, Vorstandsvorsitzender von 1993 bis 2009, persönlich in diese Projekte »reinkniete«. Eine immer wichtigere Rolle spielten auch die Projekte für führende Internetfirmen, die vor allem von unserem Silicon-Valley-Büro betreut wurden. Natürlich gab es auch Flops, in denen die Durchsetzung einer Preiserhöhung nicht gelang, ein Preis für ein neues Produkt nicht akzeptiert wurde oder Preissenkungen nicht die erhofften Absatzzuwächse brachten, sondern nur die Margen reduzierten.

 

Wenn ein Attentat alle Planungen über den Haufen wirft

Gott sei Dank waren diese Fehlschläge selten. Und natürlich erlebte ich Auseinandersetzungen mit Beratungsklienten, denen unsere Empfehlungen nicht gefielen. Selbst im Nachhinein weiß man manchmal nicht, wer Recht hatte. Denn in der Realität kann nur eine Alternative umgesetzt werden. Ob eine andere Option besser gewesen wäre, lässt sich selten mit Sicherheit beurteilen.

Oder die Welt ändert sich schlagartig. So hatten wir für die TUI ein neues Preissystem entwickelt, das zum 1. Oktober 2001 eingeführt wurde. Mit dem Attentat auf das World Trade Center am 11. September 2001 war die Welt jedoch nicht mehr die alte. Die Annahmen und Daten, auf denen unsere Analysen und Empfehlungen basierten, konnte man in der Pfeife rauchen. Tröstlich war ein Jahr später die Rückmeldung eines TUI-Managers, dass es mit dem alten Preissystem nach 9/11 noch schlechter gelaufen wäre.

 

Anfängerfehler: Lücke im Vertrag

Auch bei uns lief es nicht immer glatt. Ich illustriere das an zwei Fällen. Nach der deutschen Wiedervereinigung führten wir ein Projekt für ein Unternehmen in den neuen Bundesländern durch, das von einer westdeutschen Firma übernommen worden war und neu ausgerichtet werden sollte. Gegen Ende des Projektes musste die ostdeutsche Firma Insolvenz anmelden. Dummerweise hatten wir unseren Vertrag mit dieser Firma und nicht mit der westdeutschen Muttergesellschaft, die faktisch unser Auftraggeber war, geschlossen. Der Durchgriff auf die Mutter war nicht möglich. Folglich mussten wir unsere Honorare abschreiben und in die Röhre gucken. Wir hatten uns einfach naiv verhalten und dafür die Quittung bekommen.

 

Ende der neunziger Jahre wurde der deutsche Strommarkt liberalisiert. Die Energieversorger schwankten zwischen Euphorie und Befürchtung. Ein Wettbewerber wollte die neue Freiheit für einen flächendeckenden Angriff nutzen und erteilte uns einen sehr großen Projektauftrag. Einerseits war dies für uns ein toller Erfolg, andererseits durften wir nicht für andere Unternehmen der Branche arbeiten. Im Verlaufe des Projektes kam es zu Unstimmigkeiten sowohl innerhalb des Managements des betreffenden Versorgers als auch zwischen dem zuständigen Vorstand und uns. Wir hatten es mit einem zunehmend unangenehmen Geschäftspartner zu tun, ich nenne ihn hier Riss. Herr Riss stand seinerseits unter massivem Druck. Die Beziehung zwischen Riss und unserem projektleitenden Partner hatte sich auseinander entwickelt.

 

Verhärtetes Klima

Im Herbst 1999 treffen wir uns in einem Konferenzraum eines Flughafens, auf neutralem Territorium sozusagen. »Sind Sie nervös?«, fragt mich der projektleitende Partner, der mich zu der heiklen Verhandlung begleitet. »Es geht«, antworte ich ausweichend. Ich bin nervös. Ein sehr großer Betrag und weitere wichtige Bedingungen stehen auf dem Spiel. Wir müssen heute Abend eine Lösung finden. Ich sehe Riss erst zum zweiten Mal, kenne ihn kaum, habe Anlass ihm zu misstrauen. Er lässt uns warten. Das ist sein Stil, es überrascht uns nicht. Die Verhandlung beginnt frostig. Argumente fliegen hin und her. Riss und ich starren uns in die Augen, endlos, ohne zu reden. Das Klima verhärtet sich, eine Einigung rückt in die Ferne. So geht es nicht. Ich lasse unseren Partner und Riss, die sich seit längerem kennen,allein im Raum und warte vor der Tür. Es dauert lange. Schließlich kommt unser Partner mit einem Kompromissvorschlag raus.

 

Noch nie einen Prozess gegen einen Kunden geführt

Dieser ist für mich inakzeptabel. Unser Anwalt befindet sich im Urlaub, wir haben ihn aber am Telefon. Er ist sich sicher, dass wir vor Gericht ein wesentlich besseres Ergebnis erreichen werden. Doch vor ein Gericht zu ziehen und zu prozessieren, das liegt mir absolut nicht. Wir haben noch nie einen Prozess mit einem Kunden geführt. Das will ich nicht ändern. Ich drücke Riss noch einmal in unsere Richtung. Er ist nahe daran, den Raum zu verlassen. Aber letztlich unterzeichnen wir eine Vereinbarung. Sie ist finanziell für mich nicht zufriedenstellend, jedoch sind wir ab sofort wieder frei, für andere Unternehmen der Branche zu arbeiten.

Diese Freiheit ist uns ein finanzielles Zugeständnis wert. Ich bin erleichtert, diese leidige Sache hinter mir zu lassen und nicht vor einem Gericht um unser Recht kämpfen zu müssen. Unsere Energien können wir sinnvoller als in Rechtsstreitigkeiten einsetzen. Nicht zuletzt hat sich der Einsatz des Anwaltes in diesem Fall gelohnt. Denn im Endstadium der Verhandlung weist er mich darauf hin, dass wir unbedingt »plus MwSt.« hinter den vereinbarten Betrag einfügen sollten. Das Fehlen dieses Passus hätte uns leicht eine halbe Million D-Mark kosten können. Ich habe Riss nie wiedergesehen.

 

Vision und Führung

Mit meinem Antritt als Chef Anfang 1995 begann für mich ein neuer Lebensabschnitt, eine zweite Karriere nach den Jahren in der Wissenschaft. Natürlich war die Beratung für mich nicht neu, aber an die Mühen der täglichen operativen Führung, an die Notwendigkeit, Projekte hereinzuholen und diese zuverlässig abzuarbeiten, musste ich mich gewöhnen. Wo standen wir? Wo sollte unser Weg hinführen? Unsere Strategie bestand im Wesentlichen darin, dass wir wild entschlossen waren, alle drei Jahre den Umsatz zu verdoppeln. Das war uns bisher in der Tat gelungen.

Die durchschnittliche Wachstumsrate von 1985 bis 1994 lag bei 34 Prozent pro Jahr. Mit Ausnahme eines Jahres, in dem uns der erste Golfkrieg in 1991 einen leichten Dämpfer versetzte, waren wir stetig gewachsen. Bald fühlten wir uns wie von Adlers Flügen getragen. Aber wir hatten nur ein einziges Büro. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren unsere Mitarbeiter Deutsche. Und auch unsere Projekte kamen zu mehr als 90 Prozent aus dem deutschsprachigen Raum. Es trifft die Realität, uns als kleines, mittelständisches, deutsches Beratungsunternehmen zu bezeichnen. Doch unsere Ambitionen waren größer. Wir wollten eine globale Consulting- Firma werden. Wir erarbeiteten ein Vision-&-Values-Statement, in dem wir unsere Identität wie folgt definierten: »We are a global consulting company in strategy and marketing. Our standard is the world class.«

Unser Wertekanon wurde von vier Prinzipien getragen:

●● Ehrlichkeit,

●● Qualität,

●● Kreativität,

●● Schnelligkeit.

 

Alle Prinzipien gelten nach außen, gegenüber unseren Klienten, wie nach innen gegenüber unseren Mitarbeitern. Nur durch Ehrlichkeit lässt sich Vertrauen aufbauen. Manchmal kommen Klienten mit vorgefassten Meinungen, die sie vom Berater bestätigt haben wollen. In anderen Fällen deckt man Fehler oder Schwächen auf, die der Klient nicht gerne hört. Und auch Mitarbeitern muss man gelegentlich unangenehme Wahrheiten sagen. Ich behaupte nicht, dass wir diesem Anspruch immer gerecht werden konnten.

Aber wir haben die Messlatte nicht niedriger gelegt und letztlich, auch wenn es manchmal gedauert hat, die Maxime »Wer lügt, der fliegt« umgesetzt. »Qualität« bedeutet für uns, dass wir mit den modernsten quantitativen Methoden arbeiten, um Ergebnisse höchster Validität und Reliabilität zu erzielen. Basis dafür sind die hohe Qualifikation unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Bereitschaft zum lebenslangen Lernen. Wie wichtig Qualität in den kleinsten Dingen ist, hatte ich bei einem frühen Projekt gelernt. Bei der Erfassung eines Fragebogens war ein Komma um eine Stelle verrutscht. Statt 1 000 Tonnen bei dem befragten Unternehmen erschien ein Verbrauchsvolumen von 10 000 Tonnen. Das führte zu einer massiven Fehleinschätzung des Marktpotenzials.  Gott sei Dank entdeckten wir diesen Fehler noch rechtzeitig vor der Abschlusspräsentation, sonst hätten wir uns bei unserem Klienten lächerlich gemacht.

 

Qualität der Beratung durch Kompetenzen und Commitment der Teams

Qualität ist jedoch weit mehr als Fehlervermeidung. Letztlich wurzelt Qualität im Beratungsgeschäft in den Kompetenzen und dem Commitment unserer Teams. Diese bestehen ausnahmslos aus »Wissensarbeitern«, bei denen man den Prozess der Leistungserstellung – anders als beispielsweise bei einem Fließbandarbeiter – nicht kontrollieren kann.

 

In der Beratung ist selbst das Ergebnis nur schwer kontrollierbar. Der Kontrolleur müsste den Prozess der Ergebnisableitung selbst durchlaufen, also beispielsweise Gespräche mit dem Management oder den Kunden des Klienten führen. Letztlich kann man hohe Qualität nur durch die Auswahl, Beurteilung und ständige Weiterqualifikation der Mitarbeiter sicherstellen.

 

Individuelle Lösungen statt Kochrezepte

Das Prinzip »Kreativität« besitzt für uns mehrere Facetten, die sowohl die Außen- als auch die Innenbeziehungen betreffen. Kreativität verlangt, dass wir für ein Problem eine spezifische, auf den Klienten und die jeweilige Situation zugeschnittene Lösung entwickeln. Wir haben zwar einen Werkzeugkasten von Methoden, aber wir bieten keine Kochrezepte für Strategie und Marketing an. Hierin unterscheiden wir uns deutlich von Marktforschungsagenturen, die häufig mit standardisierten Methoden arbeiten. Nach innen verlangt Kreativität von jedem Kollegen »Mitdenken«. Dieses Mitdenken gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Konsequenzen des eigenen Tuns für die Teamkollegen.

 

Schnelle Reaktion und pünktlich liefern

»Schnelligkeit« ist nach meiner Erfahrung das in der Praxis am häufigsten verletzte Prinzip. Viele Menschen tun sich schwer mit dem Motto »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Die weitverbreitete Langsamkeit ist für mich persönlich eine ständige Nervensäge. Dabei kann man Kunden mit kaum etwas positiver überraschen als mit Schnelligkeit. Ich kenne keinen Aspekt, für den ich häufiger positives Feedback erhalten hätte als für schnelle Reaktion. Genau diese Erfahrung versuchte ich meinen Mitarbeitern mit dem Prinzip Schnelligkeit einzuimpfen. Leider ist das nicht bei allen gelungen, aber doch bei den meisten. Implizit einbezogen ist in dem Prinzip das Thema Pünktlichkeit, im Sinne des Erscheinens zur vereinbarten Zeit sowie des Ablieferns von Leistungen zum zugesagten Termin.

 

Ich kann natürlich nicht behaupten, nie zu spät zu kommen. Die Realität ist allerdings nicht weit von diesem Anspruch entfernt. Manchmal hat man keine Einflussmöglichkeit, etwa wenn ein Flug verspätet ist oder man unerwartet lange im Stau steht. Das kann man nicht steuern. Aber was man steuern kann, ist die Abfahrtzeit. Das wusste schon der durch seine Fabeln bekannte Franzose Jean de La Fontaine. Er sagte: »Eilen hilft nicht. Zur rechten Zeit aufzubrechen, ist die Hauptsache.« Wie wahr!

 

Einhämmern und Wiederholen hilft

Die vier Prinzipien habe ich meinen Mitarbeitern immer wieder eingehämmert. Nun kann die Situation eintreten, dass man sich selbst nicht mehr hören mag, weil man stets dasselbe wiederholt. So sagte mir einmal Eberhard von Koerber (1938–2017), damals Vorstandsvorsitzender von ABB: »Ich kann mich selbst nicht mehr hören, ich habe alles schon Hunderte von Malen gesagt.« Meine Antwort war: »Sie sind der Einzige, der das Hunderte von Malen gehört hat. Jeder einzelne Mitarbeiter in einem so großen Unternehmen hat das vermutlich nur ein- oder zweimal mitbekommen. Sie können es ruhig noch einige Hunderte Male wiederholen. Dann besteht vielleicht die Chance, dass alle Mitarbeiter es zumindest dreimal gehört haben.«

 

Wertesysteme: Taten sind wichtiger als Worte 

Unser offizielles Wertesystem entwickelte sich unter meinen Nachfolgern weiter. Per 2018 umfasst das Wertesystem von Simon-Kucher die folgenden sechs Merkmale: Integrity, Respect, Entrepreneurship, Meritocracy, Impact und Team. Werte beziehungsweise deren Kodifizierung sind lebende Systeme. Wichtiger als die Worte sind jedoch die Taten. Entscheidend ist, ob und wie die Werte gelebt werden.

Meine Reden und schriftlichen Äußerungen schloss ich oft mit dem von Seneca entlehnten Wahlspruch »per aspera ad astra«, zu Deutsch »auf rauen Pfaden zu den Sternen«. Damit wollte ich ausdrücken, dass man sich hohe Ziele setzen muss, der Weg dorthin aber selten glatt verläuft. Dass man sich von den Schlaglöchern auf den Pfaden zu den Sternen nicht entmutigen lassen darf, ist eine Banalität. Stolpersteine gab es über die Jahre zur Genüge. Nicht immer funktionierte der Start eines neuen Büros. In einigen Fällen mussten wir die Büroleiter austauschen, in anderen dauerte es unerwartet lange, bis wir den Break-even-Punkt erreichten.

 

Zu den größeren Enttäuschungen gehörte der Verlust von Partnern. Von einigen trennten wir uns, weil sie die erwartete Leistung nicht brachten. Andere gingen von sich aus, da sie mit unserem unternehmerischen Modell oder unserer Kultur nicht zurechtkamen. In den ersten 30 Jahren unserer Existenz verloren wir 25 Partner, also etwa 0,8 Partner pro Jahr. Bei der heutigen Partnerzahl von rund hundert ist das eine sehr niedrige Fluktuation auf der Partnerebene. Bei den Beratern liegt die jährliche Fluktuationsrate in der Beratung typischerweise bei 15 bis 20 Prozent. Das ist bei uns nicht anders als in der Branche. Bei den Partnern streben wir hingegen eine möglichst geringe Fluktuation an, vorausgesetzt, sie bringen die erwartete Leistung.

 

Internationalisierung

In unserer Vision schrieben wir: »We are a global consulting company«, und »Our standard is the world class«. Für eine Beratung,die ein einziges Büro in einer mittelgroßen deutschen Stadt betrieb, sind das Aussagen, die man durchaus unterschiedlich interpretieren kann. Einer Interpretation zufolge werden hier sehr ehrgeizige Ambitionen zum Ausdruck gebracht, deren Realisierung noch aussteht. Weniger positiv fällt die Auslegung dieser Statements als großspurig und angeberisch aus. Wir meinten es genau so, wie wir es in unserer Vision ausdrückten.

Wir hatten ein Ziel vor Augen und wussten, was wir wollten. Der Weg zu diesem Ziel war allerdings noch nicht zu Ende gedacht. In welchem Land sollten wir mit der Internationalisierung beginnen? Wie vorgehen? Und wer würde die Aufgabe auf sich nehmen? Wenn man sich ein Globalisierungsziel vornimmt, bringt einen die Eröffnung eines zweiten Büros im deutschsprachigen Raum, etwa in Zürich oder Wien, nicht wesentlich weiter. Die Idee, ein Büro in den USA zu eröffnen, kam mir zum ersten Mal im Jahre 1993 nach dem Besuch bei einer Biotechnologiefirma in Colorado. Unsere Präsentation war sehr gut angekommen. Auf dem Rückflug sinnierte ich über meine Eindrücke. Letztlich zweifelte ich an der Auftragserteilung.

Würde eine Firma aus dem mittleren Westen eine durchaus kritische Studie zur Einführung einer Durchbruchsinnovation von einem kleinen Berater aus Bonn/Germany durchführen lassen? Würde das ohne eigene US-Präsenz funktionieren? Es funktionierte natürlich nicht.

Eine globale Unternehmensberatung mit Weltklasseanspruch muss sich in der »Höhle des Consulting-Löwen«, das heißt in den USA, bewähren. Dies gilt umso stärker, wenn sie Aufträge von amerikanischen Firmen erhalten will. Diese These traf 1995 in unserer Partnerrunde, die mittlerweile auf sieben Personen angewachsen war, auf einhellige Zustimmung. Damit war die Entscheidung gefallen: Wir eröffnen unser zweites Büro (nach Bonn) in Amerika. Die Kernfrage, wie wir vorgehen und wer es macht, war damit allerdings nicht beantwortet.

 

Unsere erste Idee war, eine kleinere amerikanische Beratungsfirma, deren Gründer ich seit langem kannte, zu übernehmen. In den Gesprächen zeigte sich jedoch deutlich, dass diese Firma unseren Qualitäts- und Kompetenzansprüchen nicht annähernd gerecht wurde. So entstand die Idee, das amerikanische Büro zusammen mit Professor Bob Dolan, mit dem ich in den vorangegangenen Jahren viel kooperiert hatte, zu eröffnen. Wir verhandelten längere Zeit. Dolan zeigt ernsthaftes Interesse und wäre sicherlich ein sehr effektiver Türöffner geworden. Bei einem Dinner am 14. März 1996 platzte die Sache. Wir konnten uns letztlich nicht einigen, und wir waren beide sehr frustriert. Dolan deutete daraufhin an, eine eigene Consulting-Firma zu gründen. Allerdings realisierte er dieses Vorhaben nie, und wir blieben Freunde, wobei vor allem unsere Frauen als Kitt wirkten. Kurze Zeit später waren die Frustration und die schlechte Stimmung verflogen.

 

Wir mussten es also auf eigene Faust wagen. Als ich beim nächsten Partner-Meeting die Frage stellte, wer nach Amerika geht und es macht, senkten sich alle Blicke. Wir gaben uns Bedenkzeit. Uns fiel ein Stein vom Herzen, als sich schließlich Dr. Klaus Hilleke bereiterklärte, mit seiner Familie für drei Jahre nach Amerika zu ziehen und das neue Büro zu eröffnen. Ähnlichen Situationen sollte ich in den Folgejahren noch häufig begegnen. Der Plan für ein neues Büro bleibt Makulatur, solange man niemanden hat, der die Aufgabe der Büroeröffnung auf sich nimmt. Hilleke wurde begleitet von dem jungen Berater Stephan Butscher, der bei mir in Mainz studiert hatte. Butscher war als Diplomatensohn in Casablanca geboren und hatte trotz seiner jungen Jahre schon viel Auslandserfahrung erworben, unter anderem während eines mehrmonatigen Praktikums in New York.

Simon-Kucher Gründungsteam (Foto: Simon-Kucher & Partners)

 

 

 

Traditionsstandort für Beratungen: Boston

Unsere Standortwahl fiel allerdings nicht auf New York, wie es für einen Berater typisch gewesen wäre, sondern auf Boston. Dafür gab es zwei Gründe. Zum einen war ich mit dem Umfeld in Boston vertraut. Immerhin hatte ich dort zwei Jahre gelebt und besaß viele Kontakte nach Harvard und ans Massachusetts Institute of Technology. Klaus Hilleke zog es vor, mit seiner Familie in einem überschaubaren Umfeld statt im »Big Apple« zu leben. Boston hatte zudem durchaus eine Tradition als Beraterstandort.

Immerhin war hier 1864 die erste Consulting-Firma der Welt, Arthur D. Little, gegründet worden. Auch die Boston Consulting Group hat hier ihren Ursprung. Ansonsten galt es, die notwendigen Schritte abzuarbeiten: Gründung eine Limited Liability Company LLC, die der deutschen GmbH ähnelt, Anmietung eines Büros und Einstellung der ersten amerikanischen Mitarbeiter.

Unsere Bürowahl fiel auf den Kendall Square in Cambridge, nur wenige Meter von meinem ersten amerikanischen Einsatzort, der Sloan School of Management des MIT, entfernt. Man kehrt eben gerne an den Ort früheren Wirkens zurück, wenn sich damit angenehme Erinnerungen verbinden. Ich erinnere mich an die ersten Bewerbungsgespräche mit den MBAs Juan Rivera und Steve Rosen. Beide sagten zu.

Juan Rivera ist heute Chef der amerikanischen Simon-Kucher & Partners LLC, Steve Rosen ist Partner in der Life Sciences Division. Ähnlich wie in Deutschland hielten uns diese amerikanischen Mitarbeiter der ersten Stunde über Jahrzehnte die Treue. Zur Einarbeitung kamen sie für ein Jahr nach Bonn. Wir sind überzeugt, dass wir unsere Unternehmenskultur nur über Menschen, nicht über Deklamationen oder Papiere transferieren können.

In der Anfangszeit flog ich etwa einmal pro Monat nach Boston. Während dieser Zeit unterhielt ich im Charles Hotel am Harvard Square in Cambridge ein Kleiderdepot, um nicht jedes Mal alles über den Atlantik hin und her transportieren zu müssen. Aber ich erkannte schnell, dass ich bei amerikanischen Kunden nicht viel bewirken konnte. Consulting ist ein People-Business. Ich hatte zwar eine Visitenkarte mit amerikanischer Adresse, verheimlichte aber den Klienten nicht, dass ich nur sporadisch vor Ort war. Es beeindruckt einen Klienten verständlicherweise nicht, wenn der Chef eines kleinen Beratungsunternehmens für einen Akquisetermin erscheint, danach aber kaum noch sichtbar ist.

 

Steiniger Weg

Unsere Wunschvorstellung, deutsche Unternehmen in den amerikanischen Markt zu begleiten, ging nicht auf. Viele deutsche Beratungen setzten auf diesen Weg und kamen deshalb im Ausland nicht voran. Nach kurzer Zeit wurde uns klar, dass wir Projekte bei amerikanischen Unternehmen akquirieren mussten und dass diese Aufgabe von den Mitarbeitern vor Ort zu bewältigen war.

Hatten wir die Herausforderung unter- beziehungsweise unsere Fähigkeiten überschätzt? Unsere Erfahrung aus den Anfangsjahren in Deutschland, nach der sich das »Eichhörnchen mühsam nährt«, wiederholte sich in den USA. Die amerikanischen Klienten erwiesen sich zwar als überraschend offen und interessiert, und es gelang uns, Vorstellungstermine zu bekommen. Aber der Weg von einem ersten Treffen zum Projektauftrag war steinig.

Dabei spielte auch die allpräsente Konkurrenz eine Rolle. Denn Amerika litt nicht gerade unter einem Mangel an Beratern. Allerdings war keiner von diesen so konsequent auf das Thema Pricing ausgerichtet wie wir. Klaus Hilleke und sein Team bewiesen jedenfalls hohe Frustrationstoleranz und vorbildliches Durchstehvermögen. Irgendwann platzte der Knoten, und es ging kontinuierlich aufwärts.

 

Der Erfolg in den USA machte uns Mut. Vier Jahre später eröffneten wir Büros in Zürich und in Paris. Kurz vorher hatten wir eine weitere Dependance in München eingerichtet, was aber, ähnlich wie Zürich, kein großes Problem darstellte. Denn in bei den Fällen blieben wir im deutschsprachigen Umfeld. Eine größere Herausforderung beinhaltete hingegen die Büroeröffnung in Paris. Wir hatten keinen Partner oder Mitarbeiter, dem wir diese Aufgabe zutrauten. Deshalb wandte ich mich an den Pariser Headhunter Eric Salmon und interviewte in dessen Büro an den Champs Elysées mehrere Kandidaten.

Hier erfuhr ich wieder einmal, wie klein die Welt ist. Die Dame namens Cathérine Dunand, die uns seitens Salmon betreute, kannte ich, denn sie hatte vorher als Assistentin von Fritz Straub, dem weltweiten Vertriebschef von Hoechst Pharma, gearbeitet. Unter den Bewerbern, die ich interviewte, war Kai Bandilla, damals junger Partner bei Roland Berger in Paris. Wir kamen jedoch nicht zusammen. Stattdessen heuerte ich einen französischen Consultant an, der unser Angebot annahm und das Büro eröffnete. Vorher hatten wir in Bonn Florent Jacquet und Franck Brault, zwei junge Absolventen der Grande École HEC, eingestellt. Beide kehrten nun mit einem Jahr Stammhauserfahrung nach Paris zurück. Heute sind beide Partner. Auch sie sind über Jahrzehnte bei der Stange geblieben.

Doch es klappte mit dem von außen kommenden Chef nicht, daher trennten wir uns und entsandten einen deutschen Partner nach Paris, der sich sehr bemühte, aber den Durchbruch ebenfalls nicht schaffte. Drei Jahre waren vergangen, wir hatten den Break-even nicht erreicht – so konnte es nicht weitergehen. Da erinnerte ich mich an Kai Bandilla aus der ersten Bewerbungsrunde beim Headhunter Eric Salmon. Ich rief ihn an, und wenige Tage später waren wir handelseinig. Heute führt Kai Bandilla nicht nur das Pariser Büro, sondern auch die Büros in Istanbul, Dubai, Singapur, Sydney, Peking und Hongkong. Er ist außerdem Mitglied unseres Corporate Boards.

 

Rückschlag in Moskau

Wir erlebten auch Rückschläge. Im November 2008, dem schlechtesten aller möglichen Zeitpunkte, eröffneten wir ein Büro in Moskau. Wir mieteten uns bei einem sehr teuren Bürodienstleister ein. Die Kosten waren hoch, die Aufträge gleich null, und nach einem Jahr zogen wir die Reißleine. Doch die Internationalisierung ging weiter. Die Tabelle zeigt die Geschichte unserer Expansion von 1985 bis 2018:

Die Herausforderungen blieben und bleiben die gleichen. Das Schwierigste ist die Besetzung des Büroleiterpostens. Hat man Berater oder Partner, die es können, so läuft es. Ohne solche Personen kann ein Büro über Jahre ein Sorgenkind bleiben. Nicht minder wichtig ist die Gewinnung und Entwicklung von Beratern, die aus dem jeweiligen Land stammen und die lokale Sprache beherrschen. Man kann ein internationales Beratungsgeschäft nicht nur mit Expatriates aufbauen. Aber auch diese braucht man, um die Kultur und die Kompetenzen des Unternehmens in die neuen Büros zu transferieren. So haben wir über die Jahre viele fähige Mitarbeiter in die ganze Welt entsandt. Viele dieser Expatriates blieben lange Jahre oder sogar auf Dauer in den Zielländern. Zu diesen gehören André Weber, Dr. Volker Janssen und Peter Ehrhardt in Amerika, Dr. Jochen Krauss und Jan Weiser in Singapur, Dr. Jens Müller in Tokio, Christoph Petzoldt in Sydney, Lovrenc Kessler in Dubai sowie der Schweizer Silvio Struebi in Hongkong. Insgesamt haben wir aber weniger als zehn deutschstämmige Partner im Auslandseinsatz.

Mit dem Beginn unserer Internationalisierung erklärten wir Englisch zu unserer Unternehmenssprache. Jeder Mitarbeiter muss Englisch beherrschen, und alle Unternehmensdokumente werden nur noch in Englisch formuliert. Dieser Übergang bereitete anfangs einigen Beschäftigten Probleme, aber nach wenigen Jahren war Englisch als Unternehmenssprache für alle zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich kann nur jedem Unternehmen, das sich internationalisieren will, raten, diesen Weg kompromisslos zu gehen. Englisch als Unternehmenssprache vereinfacht die Kommunikation, spart Doppelarbeit für Übersetzungen und erhöht die Attraktivität für nichtdeutschsprachige Bewerber. Ein global agierendes Unternehmen braucht eine einheitliche Sprache.

Eine schwierige Herausforderung, gerade in einem Geistkapitalunternehmen, besteht darin, den Mitarbeitern in aller Welt eine einheitliche Werte- und Unternehmenskultur über Länder- und Kulturgrenzen hinweg zu vermitteln und diese aufrechtzuerhalten. Nur wenn dies gelingt, erfahren die Klienten einen möglichst einheitlichen Auftritt und eine konsistente Qualität unserer Berater. Wir haben das Ziel, unseren Klienten in aller Welt vergleichbare Leistungen zu bieten. Diesem Anspruch können wir nur gerecht werden, wenn ein gemeinsames System verbindender und verbindlicher Werte etabliert wird. Gleichwohl muss ein solches System flexibel genug sein, die Besonderheiten einheimischer Kulturen zu integrieren, und es darf die kontinuierlich notwendigen Veränderungen und Innovationen eines international wachsenden Beratungsunternehmens nicht hemmen.

 

Globalität ist Kernelement unserer Identität. Global zu sein, bedeutet für uns, dass wir Klienten, Mitarbeiter und Büros in allen relevanten Märkten haben. Wir sehen ein solch globales Netzwerk nicht zuletzt als Attraktivitätsfaktor für die Gewinnung und das Halten von Mitarbeitern. Heute sind wir mit 37 Büros in 25 Ländern vertreten, doch es gibt nach wie vor zahlreiche weiße Flecken auf unserer Weltkarte. Unsere Entschlossenheit, eines Tages in der ganzen Welt präsent zu sein, ist genauso stark wie in den frühen Jahren. Das Fundament, auf dem wir dieses Ziel erreichen wollen, ist breiter und solider als je zuvor. Insofern sollte sich unsere weitere Internationalisierung sogar beschleunigen.

 

Geistkapital versus Finanzkapital

Im Jahr 1968 prägte Peter Drucker den Begriff »Knowledge Worker« (Wissensarbeiter). Ein Wissensarbeiter erledigt nicht primär physische, sondern mentale Arbeit. Er setzt dabei vor allem sein Gehirn und seinen Geist, weniger seinen Körper ein. Firmen, die überwiegend Wissensarbeiter beschäftigen, nennt man Geistkapitalunternehmen. Sie spielen in modernen Volkswissenschaften eine wichtige Rolle. Dazu gehören Beratungen, Rechtsanwaltskanzleien, Arztpraxen sowie Entwicklungs- und Inspektionsfirmen. Natürlich sind auch Universitäten und Schulen Geistkapitalunternehmen.

Simon-Kucher & Partners ist ein Geistkapitalunternehmen. Mehr als 80 Prozent unserer Mitarbeiter besitzen akademische Abschlüsse, mehr als ein Zehntel hat einen Doktorgrad. Wir produzieren keine tangiblen Güter. Unsere Projektberichte, seien sie auf Papier oder in digitaler Form, beinhalten nur Information und Wissen.

 

Unkontrollierbare Wissensarbeit

Bei Wissensarbeitern lässt sich der Prozess der Wertschöpfung nicht kontrollieren. Wenn ein Wissensarbeiter aus dem Fenster schaut, weiß man nicht, ob er gerade nichts tut, ob er träumt oder eine brillante Lösung für ein Problem entwickelt. Jemand, der innerhalb einer Stunde eine tolle Problemlösung findet, leistet mehr als ein Kollege, der den ganzen Tag an dem Problem knabbert, aber keine überzeugende Antwort zustande bringt. Die Arbeitswerttheorie von Karl Marx, die den Wert eines Produktes aus der hineingesteckten Arbeitszeit ableitet, ist in Geistkapitalunternehmen noch stärker fehl am Platze als in Produktionsunternehmen.

 

Die wichtigste Ressource verlässt jeden Abend das Büro

Eine weitere Besonderheit von Geistkapitalunternehmen besteht darin, dass die wichtigsten Ressourcen jeden Abend das Büro verlassen. Man kann nur hoffen, dass sie am nächsten Morgen wieder auftauchen. Die kritische Ressource sitzt nämlich in den Köpfen der Mitarbeiter. Am stärksten gilt das für besonders qualifizierte Berater und speziell für die Partner. Sie bei der Stange zu halten, ist eine Notwendigkeit und eine große Herausforderung. Geistkapitalunternehmen brauchen wenig Finanzkapital. Typischerweise mieten sie ihre Büros. Auch das Working Capital ist beschränkt. Weder für Vormaterialien noch für Fertigprodukte braucht man Lager.

 

Die Finanzierung ist also normalerweise nicht der Engpass. Dennoch verlieren viele neu gegründete Geistkapitalunternehmen aufgrund von Finanzaspekten ihre Identität. Man hört oft, dass alles vom Chef abhängt. Vielleicht gilt das tatsächlich für Industrieunternehmen mit einer streng hierarchischen Struktur. Für Geistkapitalunternehmen trifft es weit weniger zu. Wenn eine solche Firma eine gewisse Größe erreicht, hängt der Erfolg eher von den Partnern als vom Boss ab. Die Partner führen Gruppen, die sich wie kleine Unternehmen verhalten. Deshalb sollten die Partner echte Unternehmer sein. Charles O’Reilly, Professor an der Stanford University, postuliert, dass die Anteile von Geistkapitalunternehmen von den aktiven Partnern und nicht von externen Finanzinvestoren gehalten werden sollen. Er begründet dies damit, dass der knappe Faktor im Geist- und nicht im Finanzkapital liege.

Es ist allerdings nicht einfach, das Eigentum auf die jüngeren Partner zu übertragen. Per Definition sind die Gründer zu Beginn die alleinigen Shareholder. Gründer haben eine natürliche Tendenz, möglichst hohe Anteile möglichst lange zu halten. Die Zeit fliegt, und plötzlich sind sie in ihren Fünfzigern. Wenn die Firma bis dahin erfolgreich war, werden die Anteile für die jüngeren Partner zu teuer.

Die Folge ist, dass die Firma an ein größeres Beratungsunternehmen verkauft wird und ihre Identität verliert. So wurde einer unserer frühen Konkurrenten, die von Professor Thomas Nagle gegründete Strategic Pricing Group, an die Consulting-Firma Monitor, die ihrerseits auf Initiative des Harvard-Professors Michael Porter gegründet worden war, verkauft. Monitor selbst landete schließlich bei Deloitte. Auch Roland Berger verkaufte seine Firma an die Deutsche Bank, und die Partner mussten sie später zurückerwerben. A.T. Kearney wurde an die von Ross Perot gegründete IT-Firma EDS verkauft, die ihrerseits im General-Motors-Konzern aufging.

Ähnlich wie bei Roland Berger erwarben die Partner das Unternehmen später zurück. Es ließen sich zahlreiche weitere Beispiele aufzählen. Ich schätze, dass 90 Prozent der neugegründeten Consulting-Unternehmen nach der ersten Generation diesen Weg gehen. Nur wenige schaffen es in die zweite Generation. Wenn die Anteile nicht von Anfang an systematisch abgegeben werden, besteht die einzige Alternative zum Verkauf im Verschenken der Anteile an die jüngeren Partner. Das kann ohne Gegenleistung oder zu einem nominalen Preis geschehen. Die Tatsache, dass es McKinsey, Boston Consulting Group und Bain gibt, hat genau hier ihren Ursprung. Marvin Bower, der Gründer von McKinsey, gab seine Anteile 1964 an die Partner. Ähnlich verfuhren Bruce Henderson, Gründer der Boston Consulting Group, und Bill Bain, Gründer von Bain.

Eine Konsequenz dieser »Schenkungen« besteht darin, dass die Beteiligungsmodelle solcher Firmen in den Folgegenerationen nicht wirklich unternehmerisch sind. Mit »wirklich unternehmerisch « meine ich, dass neue Partner Anteile zu einem Marktwert kaufen und beim späteren Ausscheiden zum dann geltenden Marktwert verkaufen. Wenn man die Anteile vom Gründer geschenkt bekommen oder zu einem nominalen Preis erworben hat, kann man sie schlecht an die nächste Partnergeneration zum Marktwert abgeben.

 

Partner sind Treuhänder

Die Partner in solchen Unternehmen sind also eher Treuhänder als wirkliche Eigentümer. Der Unternehmenswert wird nie realisiert. Es sei denn, man verkauft die ganze Firma oder bringt sie an die Börse, wie es beispielsweise Goldman Sachs getan hat. Bei Simon-Kucher & Partners hatten wir von Beginn an andere Absichten und dementsprechend ein völlig anderes Modell. Als Gründer waren wir entschlossen, das Unternehmen auf eine unabhängige und dauerhafte Basis zu stellen. Wir wollten auf keinen Fall mit 55 oder 60 an einen Großen verkaufen müssen und die Identität unseres Babys opfern. Deshalb begannen wir bereits im fünften Jahr nach der Gründung mit der Übertragung von Anteilen an die zweite Partnergeneration.

Menge und Preis der abgegebenen Anteile waren dabei Verhandlungssache. Da war natürlich ein gewisses Schachern unvermeidlich. Das gefiel mir nicht. Ich träumte von einem anderen Modell, das einer Börse ähnelte. Im Jahre 1998 entschieden wir uns für ein solches Modell, das meines Wissens bis heute in der Beratungsbranche einmalig ist. Die drei Gründer verpflichteten sich, bis zu ihrem Ausscheiden 92,5 Prozent der Anteile abzugeben, 7,5 Prozent dürfen sie als Gegenleistung lebenslang behalten. In jedem Jahr wird ein Preisintervall für die Anteile definiert. Senior Partner (das wird man nach zehn Jahren) können verkaufen, alle anderen Partner, auch die neu gewählten, können kaufen.

Innerhalb dieser Rahmenbedingungen läuft der Prozess wie an der Börse ab. Die Verkäufer geben an, wie viel sie bei vorgegebenen Preisen abtreten wollen. Die Käufer machen entsprechende Angaben zur Zahl der Anteile, die sie bei den jeweiligen Preisen verpflichtend übernehmen. Wie im klassischen Modell resultieren eine Angebots- und eine Nachfragekurve, deren Schnittpunkt die Zahl und den Preis der übergehenden Anteile definiert.

Das System lief über die Jahre weitgehend reibungslos. Nur zweimal fuhren wir gegen die »Wand«, weil das Preisintervall zu eng definiert war. Die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage musste in diesen Fällen durch Zuteilung eines kleinen Teils der übergehenden Shares geregelt werden. Aufgrund der Erfahrungen führten wir einige Verfeinerungen ein, aber das grundlegende System blieb unangetastet. Im Ergebnis sind die Anteile breit über rund hundert Partner gestreut. Die Gründer besitzen insgesamt nur noch die im Jahre 1998 vereinbarten 7,5 Prozent. Im Laufe der Zeit gab es einige Anpassungen, ohne dass die Grundstruktur des Systems geändert wurde.

Dieses voll unternehmerische Partnerschaftsmodell hat zahlreiche Vorteile. Es ist für Unternehmertypen attraktiv, und wir sind auf unsere unternehmerische Kultur besonders stolz. Das anfängliche Investment, über dessen Höhe jeder neue Partner selbst entscheidet (wobei wir ein nicht unbeträchtliches Mindestinvestment verlangen), mag Beamtentypen abschrecken, aber es zieht unternehmerische Menschen an. Diese Unternehmer sind die Treiber unseres Wachstums, und das Wachstum seinerseits ist Treiber des Unternehmenswertes.

Wir wissen natürlich nicht, wie das Wachstum in Zukunft aussehen wird. Insofern sind die Investitionen durchaus risikobehaftet. Aber wenn die Vergangenheit eine Indikation liefert, sind Investments in die Anteile von Simon-Kucher & Partners für junge Partner extrem attraktiv. In den ersten zehn Jahren (1985–1994) sind wir jährlich um 34 Prozent gewachsen. Es ist allerdings anzumerken, dass eine hohe Wachstumsrate, wenn man bei null startet, eher zu erreichen ist als in späteren Jahren mit zunehmender Größe. Von 1995 bis 2008 haben wir unseren Umsatz knapp versiebzehnfacht, was einer jährlichen Wachstumsrate von 24 Prozent entspricht. Von 2009 bis 2017 haben wir trotz der anfänglichen Krisenjahre 15 Prozent pro Jahr geschafft. Wir sind entschlossen, auch in Zukunft weiter zu wachsen. Aber was die Zukunft tatsächlich bringen wird, steht in den Sternen.

 

Unzählig viele Übernahmeangebote

Angesichts unseres Wachstums ist es nicht verwunderlich, dass über die Jahre Unzahlen von Übernahmeangeboten an uns herangetragen wurden. Das erste erreichte mich bereits während meiner Harvardzeit Anfang 1989. Wir waren Carl Sloane, dem Gründer von Temple, Barker & Sloane (TBS), einer in Lexington, Massachusetts, ansässigen Beratungsfirma, aufgefallen. TBS wurde später von der Firma United Research übernommen, die ihrerseits in Cap Gemini aufging. Sloane kannte Deutschland gut und hatte uns dort beobachtet. So ging es über die Jahre weiter. Große Berater und führende Wirtschaftsprüfungsfirmen sprachen uns an.

Doch der Verkauf war für die Gründer und auch die jüngeren Partner nie ein ernsthaftes Thema. Wir hätten zwar höhere Preise als in der internen Börse erzielt. Aber unsere Unabhängigkeit und die Vision, ein auf Dauer unabhängiges Unternehmen zu schaffen, waren uns wichtiger. Ich glaube, dass die meisten unserer Partner nicht in einem von Konzerndenken und Bürokratie geprägten Umfeld arbeiten wollen. Unsere Partner schätzen die unternehmerische Freiheit, die sie bei Simon-Kucher finden, sehr hoch ein. Gleichzeitig ist sie die Basis, von der aus wir mit ungebrochenen Ambitionen die Herausforderungen der Zukunft angehen.

 

Jenseits der Kommandobrücke

Im Februar 2007 wurde ich 60. Bei einer Feier mit den Partnern von Simon-Kucher & Partners kündigte ich an, das CEO-Amt spätestens mit 65, eventuell auch früher, zu übergeben. Insgeheim war meine Vorstellung, etwa zur Mitte dieser Fünfjahresperiode zurückzutreten. Um eine längere »Lame Duck« (lahme Ente)-Periode zu vermeiden, wollte ich den definitiven Rücktrittszeitpunkt erst kurz zuvor bekanntgeben.

Meine Jahre als CEO waren wie im Fluge vergangen. Nach einem krankheitsbedingt holprigen Start hatte ich mich gefangen und fühlte mich der Aufgabe gewachsen. Aber ich musste auch meinem Alter Tribut zollen. Wir hatten 16 neue Büros in elf Ländern eröffnet. Ich war ständig unterwegs, und manche Reisen überstiegen das zumutbare Maß. Eine Woche aus dem Oktober 2000 illustriert dies beispielhaft. In sieben Tagen hatte ich die folgende Route hinter mich gebracht: Bonn-Frankfurt-Atlanta-Boston- Atlanta-Frankfurt-Köln-Bonn-Wien-Frankfurt-Koblenz-Bonn-Berlin-Frankfurt-Bonn.

 

„Where are you?“ „And where am I?“

Diese Woche ist zwar nicht repräsentativ, aber insgesamt ging es heftig rund. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem ich übermüdet ins Hotelbett gesunken war, als das Telefon klingelte. Halb geistesabwesend ergriff ich den Hörer, und es meldete sich Bill, ein amerikanischer Klient. Ich: »Hi Bill, where are you?« Bill: »I am in New York.« Da ich in meiner Schlaftrunkenheit nicht wusste, wo ich war, fragte ich zurück: »And where am I?« Bill: »You are in Boston.«

Dazu passt eine Persiflage, die mir ein Mitarbeiter anlässlich einer Betriebsfeier in den Mund legte: »Fräulein Rodewald, stellen Sie doch bitte fest, wo ich mich gerade aufhalte,was ich hier soll und wie lange das Ganze dauern wird.« Ingrun Rodewald war meine damalige Sekretärin. Die Moral: Man kann immer nur an einem Ort sein und sollte wissen, wo das ist.

Die Geschäfte im Jahr 2007 liefen wie geschmiert, unser Umsatz stieg um 26 Prozent von 64 auf 81 Millionen Euro. Selbst im Jahre 2008 wuchsen wir weiter auf 98,7 Millionen Euro. Mein Anfang 2007 gefasster Plan, mit 62 oder 63 Jahren ein florierendes Unternehmen an meine Nachfolger zu übergeben, schien aufzugehen.

 

Die Finanzkrise und die große Frage, wer auf der Kommandobrücke steht

Doch im letzten Quartal des Jahres 2008 und noch stärker zu Beginn des Jahres 2009 erwischte auch uns die Krise. Das brachte meine Pläne gehörig ins Schwanken. Konnte ich in dieser Situation die Kommandobrücke verlassen? Sähe das nicht nach Fahnenflucht aus? Was würden meine Partner und die Nachfolger im CEO-Amt denken, wenn sie die »Krisensuppe« auslöffeln sollten? Allerdings fragte ich mich auch, ob ich die noch höheren Anforderungen, die die Krise ohne Zweifel brachte, bewältigen würde. War ich für diese Herkulesaufgabe nicht doch schon zu alt? Sollten nicht gerade in dieser schwierigen Situation jüngere, frischere Kräfte das Ruder übernehmen?

Nach ausführlichen Konsultationen mit meiner immerwährenden Beraterin Cäcilia kündigte ich an meinem 62. Geburtstag im Februar 2009 an, zum 30. April mein Amt als CEO niederzulegen. Am 23. April fand unser planmäßiges Partnertreffen in Luxemburg statt. Dort wurden Dr. Klaus Hilleke und Dr. Georg Tacke für eine Amtszeit von fünf Jahren zu Co-CEOs gewählt. Sie übernahmen das Amt am 1. Mai 2009. Beide waren für diese Führungsaufgabe bestens vorbereitet. Sie kannten sich aus Studienzeiten und hatten mittlerweile mehr als 20 Jahre Beratungserfahrung. Beide bildeten ein reibungslos funktionierendes Team. Sie wurden nach fünf Jahren für drei weitere Jahre als Co-CEOs bestätigt.

Nach insgesamt acht Jahren als Co-CEO kandidierte Klaus Hilleke nicht mehr, und seit dem 1. Januar 2017 führt Georg Tacke das Unternehmen allein. Die beiden haben in den Jahren ihrer gemeinsamen Führung Herausragendes geleistet. In ihrer Amtszeit hat sich der Umsatz auf 252 Millionen Euro im Jahre 2017 mehr als verdoppelt. Noch wichtiger dürfte sein, dass die Co-CEOs Führung und Organisation stringent professionalisiert haben. Zu meiner Zeit lief das alles sehr handwerklich, wie es für Gründer typisch ist. Die weitaus höhere Komplexität mit heute 37 Büros in 25 Ländern hätte sich auf diese Weise nicht mehr bewältigen lassen. Simon-Kucher nutzt jetzt Instrumente wie SAP und Evaluierungssystematiken, die eine zeitnahe und präzisere Steuerung der Projekte und der Mitarbeiter ermöglichen.

 

Wenn der Druck von der Seele weicht

Der Eintritt in den dritten Lebensabschnitt ist für viele Menschen, insbesondere Führungskräfte, ein einschneidendes Ereignis. Durch ihre Führungsaufgaben waren sie oft zu mehr als 100 Prozent ausgelastet. Sie hatten Macht und Einfluss. Auf das alles müssen sie mit der Aufgabe des Amtes verzichten. Wie kam ich selbst mit dieser Situation zurecht? Mein Übergang war weit weniger abrupt als der eines typischen Managers. Ich blieb Partner und behielt mein Büro. Allerdings war meine formale Macht dahin. Als Gründer und ältester Partner wurde ich dennoch häufig um Rat gefragt. Auch in den Partnertreffen sagte ich weiterhin meine Meinung. Für meine Vortrags- und Publikationsaktivitäten hatte ich jetzt wesentlich mehr Zeit. Der Druck des täglichen Geschäftes wich allmählich von meiner Seele, und ich wandte mich neuen Feldern zu.

 

Auf fremden Feldern: Search Fund

Ein Gebiet, auf dem ich bisher meinen Vermögensverwaltern gefolgt war, wenn auch mit eher bescheidenem Erfolg, interessierte mich besonders. Ich begann, mich aktiver um Vermögensanlage und Investitionen zu kümmern. Ein frühes Projekt war ein sogenannter Search Fund, der erste seiner Art in Deutschland. Bei diesem Konzept rekrutiert ein junger Unternehmer mehrere Investoren, von denen jeder eine relativ geringe Summe beisteuert. Mit diesem Kapital wird die Suche nach einem Übernahmekandidaten finanziert. Alexander Kirn, ein junger Harvard-Absolvent, brachte mir dieses Konzept nahe. Er fand zwölf Investoren, die jeweils 25 000 Euro investierten.

Der Suchprozess forderte von Kirn Durchhaltevermögen und Frustrationstoleranz. Aber nach etwa zwei Jahren gelang es, das in Siegen ansässige Unternehmen Invers zu kaufen. Invers ist Weltmarktführer bei Car-Sharing-Systemen, die sowohl Hardware als auch Software-Komponenten umfassen. Das Unternehmen war 1993 von dem Ingenieur Uwe Latsch gegründet worden, und der Gründer wollte sich aus dem aktiven Geschäft zurückziehen. Zusammen mit Alexander Kirn konnte ich den Gründer zum Verkauf bewegen. Dabei spielten nicht nur finanzielle Aspekte, sondern auch die passende Chemie eine wichtige Rolle. Die zwölf Investoren des Search Funds hatten nun die Option, sich an dem Erwerb zu beteiligen. Alle zogen mit, und Alexander Kirn übernahm die unternehmerische Führung. Das Projekt kann man als Erfolg bezeichnen. Ich selbst stieg nach einigen Jahren mit einem guten Gewinn aus. Alexander Kirn führt das Unternehmen bis heute.

Eine andere Dimension hatte ein zweites Projekt. Hierbei handelte es sich um eine sogenannte Special Purpose Acquisition Company (SPAC). Das Projekt ging auf eine Initiative des französischen Investitionshauses Wendel und des Investmentbankers Roland Lienau zurück. Lienau, ein gebürtiger Hamburger, erlernte das Handwerk des Kapitalmarktes bei der Deutschen Bank. Da er in Frankreich studiert und dort seine Frau kennen gelernt hatte, zog es ihn nach Paris zu Wendel. Das heutige Investitionshaus Wendel entstand aus einem im Jahre 1704 gegründeten lothringischen Stahlunternehmen.

Im Jahr 1978, ironischerweise unter dem Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing und dem Premierminister Raymond Barre, beides Konservative, wurde die Familie enteignet und investierte die erhaltenen Mittel in diverse Unternehmungen. So wurde in einigen Jahrzehnten aus 50 Millionen Euro ein hoher einstelliger Milliardenbetrag.

Beim SPAC-Konzept stellen die Initiatoren zunächst einen gewissen Betrag zur Verfügung. Sie suchen dann Ko-Investoren, sammeln also weitere Mittel ein. Dies taten wir in einer Kampagne, die mich in eine neue Welt führte. Wir präsentierten unsere Idee vor Investoren in allen wichtigen Finanzzentren diesseits und jenseits des Atlantiks. Aufhänger war dabei das Hidden-Champions-Konzept. Unser Ziel bestand darin, mit den eingesammelten Mitteln einen Hidden Champion zu erwerben. Eine wichtige Besonderheit einer SPAC ist, dass das Konstrukt vor dem Erwerb an der Börse eingeführt wird. Das zu erwerbende Unternehmen wird dann mit dem bereits börsennotierten SPAC verschmolzen und ist somit selbst börsennotiert.

Lienau und ich begannen mit dem Fundraising Mitte 2009 und hatten zum Ende des Jahres die geplanten 200 Millionen Euro eingesammelt. Auf dem Weg dahin gab es zahlreiche aufregende Begegnungen. In New York saßen wir beispielsweise einer 34-jährigen Dame mit Harvard-Abschluss gegenüber. Sie verwaltete einen Fonds, der nur in SPACs investierte, im Umfang von 1 Milliarde Dollar. Als ich sie fragte, wer über die Investitionen entscheide, antwortete sie sehr knapp und klar: »Ich«.

In einem anderen Fall fuhren wir in einem New Yorker Hochhaus in den 26. Stock. Als wir aus dem Aufzug traten, öffnete sich eine kleine Tür und man geleitete uns in eine Art Schwarzwaldstube. Dort begrüßten uns die Nachfahren des Gründers einer sehr kapitalkräftigen Investmentfirma. Der Gründer war in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts aus Deutschland in die USA ausgewandert. Er brachte eine Reihe seltener Vögel mit sich, die er von einem Kunden, der in die Insolvenz gerutscht war, als Bezahlung erhalten hatte. In Amerika gründete er ein Tierfutterunternehmen, das zum zweitgrößten seiner Art in der Welt aufstieg. Es wurde später an einen noch größeren Wettbewerber verkauft, und aus dem Erlös entstand der Investmentfonds.

Nach diesem Gründer ist auch eine bekannte Business-School in Amerika benannt. Ich warf Blicke in die Handelsräume großer Banken. Ich fragte mich, wer diese Komplexität überblicken und managen kann. Was machen die Tausenden von Händlern, die ich vor ihren Bildschirmen sitzen sah? Jeder von ihnen hatte nicht nur einen, sondern drei oder manchmal fünf Bildschirme vor sich. Ich bekam mächtig Respekt vor den Kapitalmärkten, die ich bisher eher als abstrakte Konstrukte kennen gelernt hatte.

 

Hidden Champions: Mehr als 80 Prozent wollen keinen Börsengang

Im Februar 2010 brachten wir die Helikos S. E. in Frankfurt an die Börse. Die Bilanz bestand zu diesem Zeitpunkt auf der Aktivseite aus 200 Millionen Barmitteln und auf der Passivseite aus 200 Millionen Eigenkapital. Dann begann die Suche nach einem Übernahmekandidaten. Hierin lag aufgrund meiner Beziehungen zu den Hidden Champions meine Hauptrolle. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Wirtschaft noch voll in der Krise. Als ich am Telefon mit 200 Millionen Euro Eigenkapital winkte, war das Interesse bei vielen Unternehmern groß. Doch als ich nachschob, das Projekt sei mit einem Börsengang verbunden, verlosch das Interesse bei mehr als 80 Prozent der Familienunternehmer. Der Börsengang bildete aber den Kern des SPAC-Konzeptes. Wenn jemand die Listung ausschloss, machte es keinen Sinn, einen Besuch und eine Präsentation durchzuführen. Dennoch bekamen wir zahlreiche Termine.

 

Doch viele Kandidaten schieden schon beim ersten Hinschauen aus. Lienau und ich waren rund 18 Monate unterwegs. Schließlich übernahmen wir die in Luxemburg ansässige Exceet Group S. E., einen Hersteller von sogenannten Embedded Computern. Hierbei handelt es sich um kundenspezifische Anfertigungen, die in der Medizintechnik zum Beispiel in Hörgeräten, Herzschrittmachern oder Magnetresonanz-Tomografen sowie in der Sicherheitstechnik eingesetzt werden. Im Juli 2011 fanden die Übernahme, die Fusion und damit die Börsennotierung (IPO) von Exceet statt.

Auch im Umfeld des High-Tech-Gründerfonds, der in Bonn ansässig ist, investierte ich in einige Start-ups. Die Erfolgsbilanz ist gemischt. Wie fühlte ich mich auf diesen fremden Feldern? Das Ganze war mir etwas unheimlich. Konnte ich den Typen, denen ich in dieser Kapitalmarktwelt begegnete, trauen? War ich ihnen gewachsen? Die Antworten auf solche Fragen fielen eher skeptisch aus. Vielleicht war ich schon zu alt, als ich die Welt der Investments und der Kapitalmärkte betrat. Jedenfalls fühlte ich mich in dieser Welt nicht wirklich wohl. Heute neige ich wieder dazu, Investitionsentscheidungen Vermögensverwaltern zu überlassen.

 

Traveling Poet

So kehrte ich zurück zu zwei angestammten Feldern, dem Schreiben und Referieren. Für mich verbinden sich mit diesen Aktivitäten zwei Vorteile. Zum einen machen sie mir Spaß und sind keine Last. Zum anderen lassen sie größere Freiheitsspielräume als andere Geschäfte und erlauben mir, in die ganze Welt zu reisen. Aufgrund meiner Publikationen in vielen Sprachen habe ich international einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht. Im Jahr 2017 landete ich in der Liste der 50 global einflussreichsten Managementdenker, den sogenannten Thinkers50, auf Platz 25.9 Auf der Seite Managementdenker.de, die die einflussreichsten Managementdenker im deutschsprachigen Raum wählen lässt, lag ich seit 2005 hinter dem verstorbenen Peter Drucker kontinuierlich auf dem zweiten Platz.10

 

Mit Michail Gorbatschow…

Sowohl das Pricing- als auch das Hidden-Champions-Thema treffen in vielen Ländern auf Interesse. Dabei spielt der anhaltende Erfolg Deutschlands und insbesondere des deutschen Mittelstandes eine zentrale Rolle. Nicht zuletzt begegne ich bei solchen Anlässen zahlreichen bedeutenden Persönlichkeiten, darunter Staatschefs und Ministern aus allen Kontinenten. Bei einer deutsch-russischen Tagung in Bonn im Jahre 1992 lernte ich Michail Gorbatschow kennen und konnte ihm eines meiner Bücher mit Widmung überreichen. Ich empfand ihn menschlich als angenehm, nahbar und nicht arrogant.

 

…und Bill Clinton

Am 16. Dezember 2001 durfte ich in Augsburg vor 4 000 Zuhörern neben dem ehemaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel und dem amerikanischen Ex-Präsidenten Bill Clinton referieren. Mein Eindruck von Clinton ist ambivalent. Als Referent auf der großen Bühne wirkt er auf mich eher schwach. »Keine starke Persönlichkeit«, wäre mein Urteil aus dieser Zuhörerperspektive.

 

Ganz anders fiel die Wahrnehmung bei dem anschließenden Empfang im kleinen Kreise aus. Obwohl die ihm vorgestellten Personen – mit Ausnahme von Ex-Finanzminister Theo Waigel – für ihn völlig anonym waren, wendete er sich jedem mit voller Aufmerksamkeit zu und ließ ihn oder sie als die wichtigste Person der Welt erscheinen. Offensichtlich verfügt er über ein ungewöhnliches Talent, Menschen für sich zu gewinnen. Ich ärgere mich, dass ich nicht über diesem Rummel stehe. Aber ich kann mich dem Banne, mit dem einst mächtigsten Mann der Welt zu sprechen, nicht entziehen. Zehn Jahre später bei einer Jubiläumskonferenz des deutsch-amerikanischen Immobilienunternehmens Jamestown trete ich wieder mit ihm auf. Diesmal wirkt er beim Vortrag noch fahriger.

 

Über die Jahre erlebte ich allerlei Arten von Veranstaltungen. Neben den seriösen Managementkongressen und -seminaren, die auch schon ein gutes Stück Show enthalten, gibt es noch eine andere Kategorie, die von Heilspredigern, Erfolgsformel-Verkäufern und dubiosen Typen organisiert werden. Solche Angebote erfreuen sich großen Zulaufs. Wohl nicht ganz wissend, auf was ich mich eingelassen habe, hatte ich 1998 einen Vortrag auf einem Kongress dieser Kategorie zugesagt. Die Zuhörerzahl ist groß, es sind mehr als Tausend. Ich bemühe mich um besondere Seriösität, was – als Kontrastprogramm zu dem ansonsten Gebotenen – gut ankommt.

Auf der Rückfahrt ziehe ich Bilanz. Obwohl ich nicht mehr zusagen würde, war dieser Besuch ein interessantes Erlebnis. Ich diskutiere meine Eindrücke anschließend mit einem Bekannten, der professionell Kongresse veranstaltet. Er liefert eine einfach und überzeugende Erklärung für den Zulauf zu diesen Veranstaltungen: Die Zahl der »erfolglosen Erfolgssucher « sei wesentlich größer als diejenige der »erfolgreichen Erfolgssucher«. Die erste Gruppe bilde ein nahezu unerschöpfliches Potenzial für die Redner, die ständig neue oder immer wieder die alten Erfolgsformeln predigten. Mein Bekannter hat Recht.

 

Rekord in Peking: 14 Interviews an einem Tag

Trotz meines fortgeschrittenen Alters nahm die Intensität der Reise- und Vortragsaktivitäten in den letzten Jahren zu und gelegentlich Ausmaße an, die in Anstrengung ausarteten. Die Liste meiner Vortragsreisen aus dem Herbst 2016 illustriert das beispielhaft:

Solche Reiseprogramme sind nur zu bewältigen, weil die Reisen weniger anstrengend sind als zu meiner Zeit an der Spitze von Simon-Kucher. Damals waren alle Tage mit Terminen vollgepackt. Heute halte ich meinen Vortrag, gebe einige – gelegentlich sogar viele – Interviews. Den Rekord bildete ein Sonntag in Peking, an dem ich 14 Interviews absolvierte. Und meistens werde ich zu einem angenehmen Essen eingeladen. Manchmal begleitet mich Cäcilia auf diesen Reisen, sodass wir Berufliches und Privates verbinden können. Solange es meine Gesundheit zulässt, will ich weiter reisen und Vorträge halten. Die Rolle des »traveling poet« gefällt mir.

 

Praktische Einsichten

Auch meine Publikationen haben ihren Charakter in der dritten Lebensphase verändert. Vielleicht mit Ausnahme des Lehrbuches „Preismanagement“ verfolge ich mit meinen Büchern und Artikeln keine wissenschaftlichen Ambitionen. Im Falle von Preismanagement deckt Professor Martin Fassnacht von der WHU Koblenz die wissenschaftliche Seite ab. Ich selbst steuere praktische Einsichten bei. Das 2015 in zweiter Auflage erschienene Buch „Preisheiten“ bietet eine Mischung aus autobiografischen und preissystematischen Elementen. Große Freude bereitete mir das Schreiben des schon erwähnten Buches Die Gärten der verlorenen Erinnerung über meine Kindheit und Jugend im Eifeldorf. Dieses Buch ist nicht primär autobiografisch, sondern beschreibt die Gesellschaft, die Landwirtschaft, die einklassige Volksschule, die Rolle der katholischen Kirche und viele ähnliche Aspekte der fünfziger und sechziger Jahre.

In diesen Rahmen passt auch die vorliegende Autobiografie. Falls ich noch weitere Managementbücher schreibe, so werden diese sich eher aus meinen Erfahrungen als aus wissenschaftlichen Analysen nähren.

Wenn man älter wird und Glück im Leben hatte, bleiben Ehrungen und Preise nicht aus. Ich gestehe, dass ich mich über Ehrendoktorate, eine Honorarprofessur, die Benennung der »Hermann Simon Business School« und verschiedene Preise, die ich im In- und Ausland erhielt, gefreut habe – vielleicht sogar für meine Familie mehr als für mich selbst. Aber wer kann das schon ehrlich beurteilen?

Ich kann mich jedenfalls über den Abschied vom Posten des CEO und den Übergang in den dritten Lebensabschnitt nicht beschweren. Im Gegenteil, ich bin mit Verlauf und Ergebnis dieses Prozesses sehr zufrieden. Erfolg und Anerkennung auf der beruflichen Ebene werden mit zunehmendem Alter unwichtiger, die Gesundheit gewinnt hingegen ständig an Bedeutung und ist weniger selbstverständlich. Ich habe das Glück, über meine Zeit weitgehend frei verfügen und der Gesundheit einen immer größeren Teil dieser Zeit widmen zu können.

 

 

 

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