Buchauszug Marilee Adams: „Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen“

„Marilee Adams unterrichtet an mehreren US-Universitäten, ist Rednerin und Coach. Sie berät weltweit Unternehmen, staatliche und private Organisationen. Ihr Thema: Entscheidend ist, nicht bei Fehlersuche und scheinbar Feststehendem zu verharren, sondern unvoreingenommen und aufnahmebereit für Meinungen und Reaktionen des Gegenübers zu sein und mit konstruktiven Fragen weiterführende Perspektiven zu entwickeln“, sagt der dtv-Verlag über die Autorin des Buchs „Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen“.

Hier ein Buchauszug. 

 

 

 

Umschaltfragen

Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.

Viktor Frankl

 

Als ich aus dem Fahrstuhl im Pearl Gebäude ausstieg, erblickte ich Joseph, der seine Ficusbäume mit einer großen roten Gießkanne goss. Es überraschte mich, ihn bei einer Tätigkeit zu sehen, die ich an meine Mitarbeiter delegiert hätte. Er wandte sich mir mit einem freundlichen Lächeln zu. »Ich liebe es, von Pflanzen umgeben zu sein. Sie erinnern mich jeden Tag daran, dass alle Lebewesen unsere Aufmerksamkeit brauchen«, sagte er. »Es sollte kein Büro ohne mindestens eine oder zwei Pflanzen geben. Meine Frau, Sarah, ist in unserer Familie die Gärtnerin. Ihr zufolge halten Pflanzen uns dazu an, uns Fragen zu stellen. Bekommen sie genug Wasser, genug Sonne? Müssen sie etwas zurückgeschnitten werden? Benötigen sie spezielle Nährstoffe? Durch Fragen kommen sie zur vollen Entfaltung, genauso wie wir Menschen.« Er schloss die Pflege seiner Pflanzen rasch ab und wir gingen in sein Büro.

 

»Am Ende unseres letzten Treffens haben wir über die Choice Map gesprochen sowie darüber, was sie uns über den Lern- und Kritikermodus verrät«, begann Joseph. »Haben Sie sich darüber noch weitere Gedanken gemacht?« Ich erzählte ihm mit einer gewissen Zurückhaltung von Grace und unserem Gespräch in der Küche und dass sie die Choice Map vom Kühlschrank mit zur Arbeit genommen hatte.

»Es ist klar, dass wir verschiedene Ergebnisse erhalten, je nachdem, ob wir den Lern- oder den Kritikerpfad einschlagen «, sagte ich zögernd. »Vielleicht bleibe ich häufiger auf dem Kritikerpfad hängen, als ich zugeben will.« »Glücklicherweise gibt es eine Abkürzung, um den Kritikerpfad zu verlassen, sobald wir erkennen, dass dieser Modus uns in seiner Gewalt hat.« Joseph deutete auf die kleine Abzweigung in der Mitte der Karte, die den Kritiker- und den Lernpfad miteinander verband. Sie war mit »Wechselpfad« bezeichnet.

 

»Diese Abzweigung ist der Schlüssel zur Veränderung. Sobald wir uns bewusst machen, dass wir uns im Kritikermodus befinden – natürlich ohne uns dafür zu verurteilen –, gehen wir mithilfe von Umschaltfragen in den Lernmodus über. Sehen wir uns an, wie das funktioniert. Wenn wir auf dem Kritikerpfad stehen«, fuhr Joseph fort, »wirkt die ganze Welt ziemlich düster. Obwohl die Welt in Wirklichkeit voller endloser Möglichkeiten ist, können wir diese nur begrenzt wahrnehmen, wenn wir mit Kritikerohren hören oder mit Kritikeraugen sehen. Ich möchte Ihnen zeigen, wie Sie Ihre Perspektive verändern und im wahrsten Sinne des Wortes alles anders sehen und hören, und das manchmal von einem Moment auf den anderen. Begeben Sie sich in der Vorstellung für einen Moment auf den Kritikerpfad, genau an den Punkt, an dem der Wechselpfad abzweigt.«

 

Ich konzentrierte mich auf den Punkt auf der Karte, an dem der Wechselpfad vom Kritikerpfad abzweigte. »Jedes Mal, wenn Sie diesen Weg betreten«, fuhr Joseph fort und deutete auf den Wechselpfad, »treffen Sie automatisch eine Entscheidung.« »Sie wachen auf. Sie entdecken eine gänzlich neue Sicht auf die Welt. In Bezug auf die Dinge, die Sie für möglich halten, denken Sie buchstäblich um. Ihre Kritikergedanken beherrschen Sie nicht länger, und Sie können freier entscheiden, was Sie als Nächstes denken und tun werden.«

 

Die letzte Freiheit des Menschen: seine Einstellung zu wählen

 

»Bei Ihnen hört es sich so an, als hätten wir stets die Möglichkeit, uns zu entscheiden … als handele es sich um eine Fähigkeit.« »Genauso ist es! Wir werden alle mit dieser Fähigkeit geboren«, rief Joseph aus. »Das macht uns zu Menschen. Wir haben stets eine Wahl, obwohl wir diese Fähigkeit üben müssen und manchmal Mut dafür brauchen, um sie bestmöglich zu nutzen. Der Psychologe Viktor Frankl sprach in diesem Zusammenhang von der letzten Freiheit des Menschen, in jeder Situation seine Einstellung zu wählen.

 

Im Grunde geht es darum, das praktisch umzusetzen. Immer wenn Sie ahnen, dass Sie im Kritikermodus sein könnten, sollten Sie innehalten, tief durchatmen, neugierig werden und sich selbst fragen: Bin ich im Kritikermodus? Natürlich ist es etwas knifflig, diese Frage unvoreingenommen zu stellen! Lautet die Antwort Ja, ich bin im Kritikermodus, können Sie sich mithilfe einfacher Fragen wie etwa den Folgenden auf den Wechselpfad begeben: Möchte ich im Kritikermodus sein? Wo wäre ich gern?« Joseph lachte. »Ist es leicht, das zu tun? Nicht immer, aber im Prinzip ist es tatsächlich einfach. Der Wechselpfad führt Sie auf den Lernpfad. In Ihrem Arbeitsbuch finden Sie eine Liste mit Umschaltfragen. Diese Liste ist ein weiteres Instrument des QT-Systems.«

(Foto: dtv)

 

Marilee Adams: „Die Kunst, die richtigen Fragen zu stellen“ dtv premium, 219 Seiten, 15,90 Euro https://www.dtv.de/buch/marilee-adams-qt-question-thinking-26154/

 

 

Irgendetwas ging mir noch im Kopf herum, aber ich bekam es nicht richtig zu fassen. Dann dämmerte es mir. Es hatte mit meiner Frage an Grace zu tun – wie es ihr gelang, ihre Stimmung so schnell zu verändern. Nun wurde mir klar, dass sie Umschaltfragen nutzte, ob sie sich dessen bewusst war oder nicht.

Joseph blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, die zeigt, wie sehr sich Umschaltfragen auf unsere Leistungen und Ergebnisse auswirken können. Es ist eine wahre Geschichte über meine Tochter Kelly, die eine begeisterte Turnerin ist. Am College hat sie sogar für eine Landesmeisterschaft trainiert. Folgendes ist passiert: Während des Trainings brachte Kelly meistens gute Leistungen, allerdings nur meistens. Sarah und ich wussten, dass sie es auf diese Weise nie ins Team schaffen würde. Sie verfügte zwar über das notwendige Können, aber ihre Leistungen

schwankten zu sehr. Da sie uns darum gebeten hatte, arbeiteten wir mit Kelly daran, sich zu verbessern, damit sie ins Team aufgenommen würde.

 

Wechselpfad

Stellen Sie Lernfragen, um den Kritikersumpf zu vermeiden

Umschalten

Bin ich im Kritikermodus?

Möchte ich mich so fühlen oder verhalten?

Wo würde ich lieber sein?

Auf welche andere Weise kann ich das Ganze sehen??

Zunächst fragten wir sie, woran sie unmittelbar vor einer Turnvorführung dachte. Sie erkannte, dass sie sich in diesen entscheidenden Momenten stets die gleiche Frage stellte: Werde ich dieses Mal hinfallen?« »Das ist eine Kritikerfrage«, bemerkte ich. »So ist es«, stimmte mir Joseph zu, »denn sie lenkte ihre Aufmerksamkeit ganz darauf zu versagen. Aufgrund ihrer Frage bekam meine Tochter Kritikerprobleme, wie sie selbst es nennt. Die Frage beeinträchtigte ihre Leistung erheblich. Daher versuchten wir drei, eine Umschaltfrage zu finden, die sie rasch in den Lernmodus katapultieren würde. Kelly selbst fiel die neue Frage ein: Wie gelingt es mir, eine gute Leistung zu erbringen? Damit klappte es. Mit dieser neuen Frage konzentrierte sie sich auf etwas Positives und programmierte sich auf diese Weise um. Ihre Leistungen verbesserten sich exponentiell und wurden darüber hinaus äußerst berechenbar. Kelly zufolge hilft diese neue Frage ihr, konzentriert zu bleiben und alles andere auszublenden.«

»Wurde sie in die Mannschaft aufgenommen?« »Aber klar«, antwortete Joseph. »Und außerdem kam sie mit einem Pokal nach Hause. Sie belegte zwar nicht den ersten Platz, aber ich war wirklich stolz auf sie. Zugegeben, vor 20 Jahren hätte ich sie wahrscheinlich dafür gescholten, dass sie nicht den ersten Platz errungen hat. Kinder zu haben lehrt uns, eine ganze Reihe neuer Fragen zu stellen, das kann ich Ihnen sagen. Sie finden Kellys Geschichte übrigens in meiner Question Thinking Ruhmeshalle.« »All das klingt für mich ein bisschen nach Zauberei«, frotzelte ich. »Oder nach einem Wunder.«

»Es ist weder Zauberei noch ein Wunder«, erwiderte Joseph schmunzelnd. »Es ist einfach eine Technik. Fragen können sogar physiologische Veränderungen zur Folge haben.

So kann zum Beispiel die besorgte Frage Was ist, wenn ich gefeuert werde? eine ganze Kette biochemischer Stressreaktionen im Körper auslösen. Kellys Frage Werde ich dieses Mal hinfallen? erinnerte sie an ihre vergangenen Misserfolge und verunsicherte

sie. Das wirkte sich negativ auf ihre Leistungen aus und verstärkte alte Programmierungen. Natürlich wollte sie nicht bewusst scheitern, aber genau das geschah aufgrund dieser alten Frage. Der Gedanke führt zur Intention. Lernfragen programmieren uns mit einer positiven Absicht – in Kellys Fall führten

sie zur richtigen Einstellung – und zu stimmigen Bewegungsabläufen, um herausragende Leistungen zu erbringen.«

»Letztlich behaupten Sie damit aber, dass Kritiker keine Spitzenleistungen erbringen können«, schlussfolgerte ich. »In diesem Punkt kann ich Ihnen nicht zustimmen. Ich kenne Kritikertypen, die überaus produktiv waren.« »Ich wäre vorsichtig mit solchen Begriffen. Niemand ist ein ›Kritikertyp‹ oder ›Lerntyp‹. Die Begriffe beziehen sich lediglich auf unsere innere Einstellung.

 

Wie Sie bereits wissen, kommt es bei jedem von uns zu beiden Einstellungen, und das wird auch immer so sein. Doch es liegt seltsamerweise in der Natur des Menschen, andere schnell mit bestimmten Etiketten zu versehen, die dann fast unlösbar haften bleiben. Andererseits ist unsere Haltung dynamisch und im Stande, sich von einem Moment auf den anderen zu verändern. Das Question Thinking macht uns unsere Einstellung bewusst, daher können wir gewünschte Veränderungen leichter umsetzen. Und wir können jederzeit damit beginnen.

Wer stets kritisiert erntet keine Loyalität oder gar Vertrauen

Trotzdem haben Sie natürlich recht damit, dass viele Menschen mehr Zeit im Kritikermodus verbringen als im Lernmodus. Und sie können dabei durchaus motiviert und produktiv sein. Allerdings hat ihr Erfolg häufig einen sehr hohen Preis. Menschen mit einem überaktiven inneren Kritiker können sich selbst und allen anderen in ihrem Umfeld den letzten Nerv rauben. Und das mindert letztlich die Produktivität, Kooperationsbereitschaft und Kreativität. Ganz zu schweigen von der Arbeitsmoral! Es ist schwer, gegenüber jemandem loyal zu sein, der die meiste Zeit im Kritikermodus ist – oder gar, ihm zu vertrauen. Ein ausgeprägter Kritikermodus kann zu Ablehnung und Konflikten innerhalb der Familie sowie unter Kollegen führen.

Wer sich wünscht, dass andere Menschen wirklich engagiert sind und sich einbringen, sollte sich auf den Lernpfad begeben. Wird ein Unternehmen von Leuten geleitet, die sich häufig im Kritikermodus befinden, kommt es häufiger zu Stress, Konflikten und zwischenmenschlichen Problemen. Solche Führungskräfte sind nicht gut dafür gerüstet, Herausforderungen flexibel, anpassungsfähig und erfolgreich zu meistern. Und stellen Sie sich nur einmal vor, welches Chaos der Kritikermodus verursacht, wenn Sie diese Einstellung abends mit nach Hause nehmen!

Meine Frau, Sarah, hat einmal einen Artikel über den Unterschied von Ehen mit einem hohen Kritikeranteil und Ehen mit einem hohen Lernanteil geschrieben. Demnach hängt unsere Erfahrung in der Liebesbeziehung sehr stark davon ab, ob wir den Partner mit Lern- oder mit Kritikeraugen betrachten. Mit Lernaugen konzentrieren wir uns vorwiegend darauf, was wir am anderen schätzen und was in unserer Beziehung funktioniert.

Wir fokussieren uns auf die Stärken anstatt auf die Schwächen – seien es die eigenen oder die unseres Partners.« Ich nickte zustimmend. »Im Kritikermodus – ob zu Hause oder in der Arbeit – betrachten wir häufig alles als Hürde und sind der Meinung, ein anderer sei stets schuld an den Dingen. Daher mangelt es uns an Energie. In einem solchen Fall sollten wir uns einfache Umschaltfragen stellen, wie etwa: Bin ich im Kritikermodus? Werde

ich die Dinge verwirklichen, die ich wirklich möchte? Wo wäre ich lieber? Wofür bin ich verantwortlich? Halten Sie inne, atmen Sie tief durch, begeben Sie sich auf den Wechselpfad, dann können Sie unmittelbar in den Lernmodus umschalten.«

»Wenn Sie recht haben, könnte ich doch einfach im Lernmodus bleiben, indem ich mich ständig auf diese Fragen konzentriere.« »Theoretisch stimmt das. Aber das Leben ist in Wirklichkeit nicht so einfach. Außerdem ist niemand von uns ein Heiliger. Wir verfallen alle hin und wieder in den Kritikermodus. Das meine ich damit, wenn ich sage, wir alle sind Kritiker in Therapie «, fuhr Joseph fort. »Aber eins verspreche ich Ihnen – je mehr Sie die Choice Map und die Umschaltfragen verinnerlichen, desto schneller und leichter wird es Ihnen gelingen, in den Lernmodus überzugehen, und desto länger werden Sie diesen Modus aufrechterhalten können.

Folglich werden Sie auch weniger Zeit im Kritikermodus verbringen. Überdies wird dieser Modus in der Regel weniger intensiv sein, sodass die Konsequenzen minimiert werden. Der Kritikermodus hat zwei Facetten. Wir bewerten uns selbst meist überaus kritisch und begegnen auch anderen mit einer äußerst negativen Haltung.

Die Ergebnisse können sehr unterschiedlich aussehen, aber sie entstammen demselben voreingenommenen Denken. Wenn wir uns zum Beispiel fragen Warum bin ich so ein Versager?, schaden wir unserem Selbstvertrauen und sind möglicherweise deprimiert. Konzentrieren wir uns dagegen mit einer Kritikerhaltung auf andere und stellen uns Fragen wie etwa Warum sind alle anderen so dumm und frustrierend? werden wir häufig wütend, nachtragend und feindselig. So oder so geraten wir im Kritikermodus häufig in Konflikt mit uns selbst oder anderen. Sobald der innere Kritiker die Kontrolle übernimmt, ist es unmöglich, eine ehrliche Verbindung zu anderen aufzubauen, etwas auf stimmige Weise zu klären oder zu innerer Ruhe zu finden. Daher setzen viele Mediatoren bei ihren Klienten die Materialien zum Lern- und Kritikermodus ein, vor allem die Choice Map.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel für einen gegen sich selbst gerichteten Kritikermodus geben. Vor einigen Jahren sprach Sarah mit einer Frau namens Ruth, ihrer Redakteurin bei einer der Zeitschriften, für die Sarah schreibt. Sie unterhielten sich darüber, dass sie beide hin und wieder Probleme mit ihrem Gewicht hätten. Sarah erzählte Ruth, wie sie die Choice Map nutzte, um sich entspannter zu fühlen, sich selbst gegenüber nachsichtiger zu sein und bezüglich ihrer Ernährung bessere Entscheidungen zu treffen. Ruth war so begeistert davon, dass sie Sarah aufforderte, einen Artikel über ihre Erfahrungen zu schreiben. In ihrem Beitrag zeigte Sarah, dass die Fragen, die sich jemand über sein Befinden und seine Ernährung stellt, entweder zu Problemen mit dem Selbstbild und dem Selbstvertrauen führen oder dem Betreffenden helfen, erfolgreich und mit sich selbst zufrieden zu sein. Zu den Problemfragen, die Sarah auflistete, gehörten unter anderen: Was ist nur mit mir los? Warum habe ich schon wieder die Kontrolle verloren? Warum bin ich so ein hoffnungsloser Vielfraß?«

 

Fragen aus dem Kritikersumpf

»Das sind alles Kritikerfragen«, warf ich ein. »Richtig. Und immer wenn Sarah mit Fragen wie diesen auf dem Kritikerpfad unterwegs war, machte sie sich extreme Selbstvorwürfe, was sie natürlich sofort in den Kritikersumpf katapultierte. Leider führte ein solcher Kritikerkoller in der Regel dazu, dass sie das Gefühl hatte, keine Kontrolle über sich zu haben – und nur noch mehr aß. Manchmal hatte sie regelrechte Fressattacken. Sobald Sarah erkannte, welche Wirkung diese Problem-Kritikerfragen auf sie hatten, suchte sie nach Umschaltfragen, die ihr eher weiterhelfen würden. Ihr zufolge waren die Umschaltfragen das Beste, was sie je ausprobiert hat, um die Kontrolle über sich selbst wiederzuerlangen. Ihre neuen Fragen lauteten zum Beispiel: Was ist eigentlich wirklich mit mir los? Bin ich bereit, mir selbst zu verzeihen? Und Wie möchte ich mich fühlen?«

»Und das brachte sie auf den Wechselpfad, die Abkürzung zum Lernpfad«, sagte ich. »Stimmt genau. Sobald sie auf den Lernmodus umgeschaltet hatte, fielen ihr ein paar Fragen ein, die ihr halfen, dort zu bleiben, wenn sie wieder Gefahr lief, in den Kritikermodus abzudriften: Was hilft mir jetzt am besten weiter? Bin ich ehrlich zu mir selbst? Was brauche ich wirklich? Welche Dinge, die nichts mit dem Essen zu tun haben, kann ich tun, damit es mir besser geht? Immer wenn sie sich eine dieser Fragen stellte, fühlte sie sich gestärkt statt machtlos. Und nicht nur das, sie ist mittlerweile super in Form, und es fällt ihr nun ziemlich leicht, ihr Gewicht zu halten.« Die Fotos von Sarah auf Josephs Schreibtisch vermittelten mir keineswegs den Eindruck, als sei sie eine Frau mit Gewichtsproblemen.

Aber das Gespräch mit Joseph führte mir einmal mehr unangenehm vor Augen, wie häufig die Fragen, die ich mir selbst stellte, unmittelbar aus meinem Kritikergeist stammten. »So, wie ich Sie bisher erlebt habe«, sagte Joseph in einem milden Ton, »haben Sie wohl kein Problem mit Ihrem Gewicht.

Allerdings läuft bei Ihnen noch eine ganze Menge im Kritikermodus ab.« »Da kann ich Ihnen nicht widersprechen«, wand ich mich. »Aber wie kommen Sie darauf?« »Das ist einfach«, antwortete Joseph. »Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie sich sicher waren, ich würde Sie als Kritiker und als Versager sehen?« »Ja«, sagte ich zögernd. Ich spürte, dass ich gerade auf etwas zusteuerte, das ich bereuen würde. »Aufgrund dieser Perspektive stecken Sie fest und glauben nicht daran, etwas verändern zu können. Und wenn Sie sich selbst mit voreingenommenen Fragen befeuern«, fuhr Joseph fort und sah mich dabei fest an, »haben Sie auch andere Leute ziemlich kritisch im Visier.«

»Ich kann mir selbst gegenüber ziemlich unnachgiebig sein, das stimmt … und gegenüber anderen ebenfalls.« Ich begann mich innerlich zu winden. »Aber manchmal gibt es wirklich Trottel und Idioten. Ich weiß, dass ich in diesem Punkt recht habe. Man muss diese Tatsache im Leben akzeptieren und seinen

gesunden Menschenverstand einsetzen – oder ein gutes Urteilsvermögen, wie Sie bereits sagten.« Ohne darauf einzugehen, lenkte Joseph meine Aufmerksamkeit wieder auf die Choice Map. Als ich sie zur Hand nahm, beugte er sich nach vorn und deutete auf die Figur im ersten Abschnitt des Kritikerpfads. Dann zeigte er mit dem Finger auf die Gedankenblase über ihrem Kopf. Sie enthielt nur eine Frage, die ich laut vorlas: Wessen Schuld ist es?

 

Schlagartig fielen mir all meine Probleme in der Arbeit ein. Ich dachte an den unangenehmen Moment der Wahrheit, in dem ich zu dem Schluss gekommen war, ein Versager zu sein und kündigen zu müssen. Ich schämte mich furchtbar. Spielteder innere Kritiker auch beim Gefühl der Scham eine Rolle? Ich war in dem Moment mit Sicherheit im Kritikermodus gewesen und hatte mich als Loser abgestempelt. Aber hatte ich denn nicht recht gehabt? Ich konnte nicht leugnen, dass ich es vermasselt hatte. »Was geht Ihnen gerade durch den Kopf?« Ich fühlte mich unwohl, als ich antwortete: »Je länger wir miteinander reden, desto mehr sehe ich ein, wie viel Schuld ich an vielen Dingen habe, die passiert sind.«

»Schuld«, hakte Joseph nach. »Was genau bedeutet dieser Begriff für Sie?« »Letztlich bedeutet es, dass ich gehen sollte. Ich bin der Unfähige. Punkt! Ende der Diskussion.« »Machen Sie für einen Augenblick einen Schritt zurück. Was geschieht, wenn Sie Ihre Frage verändern. Statt Wer hat

Schuld? fragen Sie doch mal: Wofür bin ich verantwortlich?« Diese Formulierungen hatten tatsächlich eine unterschiedliche Wirkung auf mich, aber ich wusste nicht warum. »Schuld. Verantwortung. Ist das nicht dasselbe?«

»Keineswegs«, erwiderte Joseph. »Schuld gehört zum Kritikermodus. Verantwortung zum Lernmodus. Zwischen den beiden besteht ein himmelweiter Unterschied. Wenn wir uns auf die Schuld konzentrieren, sind wir blind für Alternativen und Lösungen. Es ist beinahe unmöglich, ein Problem zu beheben,

wenn wir aus einem Gefühl der Schuld heraus urteilen, das durch den inneren Kritiker hervorgerufen wurde. Schuld kann uns lähmen. Schuld hält uns in der Vergangenheit fest. Das Verantwortungsgefühl dagegen ebnet uns den Weg in eine bessere Zukunft. Wenn Sie Ihre Fragen darauf richten, wofür Sie möglicherweise verantwortlich sind, öffnen Sie Ihren Geist für neue Möglichkeiten. Sie sind frei, Alternativen zu suchen und zu gestalten, die zu einer positiven Veränderung führen.«

Schuld hält uns in der Vergangenheit fest. Das Verantwortungsgefühl ebnet uns den Weg in eine bessere Zukunft. Schuld kann lähmen? Wie meinte er das? Ich hatte das dringende Bedürfnis aufzustehen, mich zu strecken und etwas herumzulaufen. Daher bat ich um eine Pause und spritzte mir auf der Toilette etwas kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich zurückkam, sagte Joseph: »Wiederholen Sie bitte noch einmal für mich, was Sie neulich über Charles gesagt haben.« Aha, zurück zu Charles! Nun hatte ich wieder festen Boden unter den Füßen. Ich würde Joseph mühelos darlegen können, wie gut mein Urteilsvermögen mir in diesem Fall gedient hatte und dass meine Gefühle gegenüber Charles nicht nur das Ergebnis meiner Kritikerhaltung war. »Wie gesagt, wenn Charles nicht wäre, würde ich nicht so in der Tinte sitzen«, sagte ich. »Das ist offensichtlich. Er spielt ein Spiel, bei dem es einen Gewinner und einen Verlierer gibt. Man müsste blind sein, um das nicht zu erkennen.«

Ohne darauf zu antworten, forderte Joseph mich auf, die Seiten mit der Tabelle zum Lern- und Kritikermodus in meinem Arbeitsbuch aufzuschlagen. Eine Weile nahm ich die Einträge in den beiden Spalten unter die Lupe, in denen Schlüsselmerkmale von Lernmodus und Kritikermodus aufgelistet waren. Der Inhalt der beiden Spalten war sehr unterschiedlich. Es war offensichtlich, dass der eine Modus mich auf den Kritikerpfad und der andere mich auf den Lernpfad führen würde. »Diese Tabelle fördert unsere Fähigkeit zur Selbstbeobachtung erheblich«, erklärte mir Joseph. »Sie listet Eigenschaften und Merkmale von Menschen im Kritiker- und im Lernmodus auf. So erkennen wir eher, wo wir uns in jedem Moment befinden.

 

Die Übersicht ist unschätzbar wertvoll, da sie uns hilft, unser Beobachter-Selbst zu schulen und vom Kritiker – in den Lernmodus umzuschalten. Lassen Sie uns die Liste sofort nutzen, um ein paar Dinge zu untersuchen. Denken Sie an Charles und lesen Sie dann die Begriffe oder Beschreibungen, die Ihnen besonders ins Auge springen.« »Reagiert impulsiv und automatisch. Besserwisserisch. Erwartet Zustimmung oder Ablehnung. Rechthaberisch …«

 

Ich unterbrach mich. Alles, was ich las, befand sich in der Spalte des Kritikermodus. Mein Unterkiefer verspannte sich. Dann konzentrierte ich mich auf die Lernmodus-Spalte. Nur eine Beschreibung fiel mir ins Auge: Sieht einen Wert darin, etwas nicht zu wissen. Ich war verwirrt. »Was meinen Sie mit: ›Sieht einen Wert darin, etwas nicht zu wissen?‹«, fragte ich Joseph. »Es ist wie bei jemandem, der etwas erforscht«, erklärte er. »Man will etwas Neues entdecken. Doch das ist unmöglich, wenn man an der Überzeugung festhält, alle Antworten bereits zu kennen. Einen Wert darin zu sehen, dass man etwas nicht weiß, ist die Basis für das Lernen sowie für jede Kreativität und Innovation. Mit dieser Haltung ist man offen für neue Möglichkeiten und hofft sogar, überrascht zu werden. Anstatt alte Meinungen, Positionen oder Antworten zu verteidigen, besteht das Ziel vielmehr darin, mit neuen Augen zu sehen.

 

Denken Sie nur an Einsteins Worte: ›Lerne vom Gestern, lebe im Heute und hoffe auf morgen. Wichtig ist, dass man nicht aufhört zu fragen.‹ Ich bezeichne diese Haltung gern als ›Rationale Bescheidenheit‹, als eine Reife, die wir entwickeln, wenn wir einräumen, dass es unmöglich ist, jemals alle Antworten zu kennen.« Rationale Bescheidenheit! Das gefiel mir. Dieses Gefühl hatte ich, wenn ich technologische Dinge erforschte. Davon abgesehen fühlte ich mich wie auf unbekanntem Terrain, vor allem, was zwischenmenschliche Beziehungen betraf.

 

Lernmodus/Kritikermodus-Tabelle*

Kritikermodus Lernmodus

Bewertet sich selbst, andere, Tatsachen

Akzeptiert sich selbst, andere, Tatsachen

Reagiert impulsiv und automatisch

Geht auf andere ein, reagiert überlegt

Kritisch und negativ

Voller Wertschätzung, bescheiden

Engstirnig

Aufgeschlossen

Besserwisserisch, rechthaberisch

Sieht einen Wert darin, etwas nicht zu wissen

Sucht die Schuld bei anderen

Übernimmt Verantwortung

Problemorientiert

Lösungsorientiert

Nur der eigene Standpunkt zählt

Betrachtet etwas aus verschiedenen Blickwinkeln

Unflexibel und unnachgiebig

Flexibel/lernfähig/kreativ

Entweder-oder-Denken

Sowohl-als-auch-Denken

Verteidigt Hypothesen

Hinterfragt Hypothesen

Fehler sind etwas Negatives

Aus Fehlern lernt man

Geht von einem Mangel aus

Geht davon aus, dass genug vorhanden ist

Empfindet Möglichkeiten als begrenzt

Sieht unbegrenzte Möglichkeiten

Grundhaltung: abwehrend

Grundhaltung: neugierig

* Beide Haltungen sind normal und kommen bei jedem vor; das wird auch immer so bleiben. Wenn wir uns das bewusst machen, ist jeder

 

Beziehungen im Lern- und im Kritikermodus

Verhalten im Kritikermodus

Verhalten im Lernmodus

Sieger-Verlierer-Orientierung

Win-win-Orientierung

Ablehnend, herablassend

Annehmend, empathisch

Bevormundend

Nachfragend

Getrennt von sich selbst und anderen

In Verbindung mit sich selbst und anderen

Hat Angst vor anderen Meinungen

Schätzt andere Meinungen

Empfindet Feedback als Ablehnung

Empfindet Feedback als lohnend

Gespräche sind geprägt von den eigenen Ansichten

Gespräche werden gemeinschaftlich geführt

Konflikte sind destruktiv

Konflikte sind konstruktiv

»Kritikerohren« erwarten Zustimmung oder Ablehnung

»Lernohren« erwarten Verständnis und Fakten

Gefahr

Möglichkeiten

Achtet darauf, was schlecht läuft, bei einem selbst oder anderen

Achtet darauf, was wertvoll ist, bei einem selbst oder anderen

Versucht zu attackieren oder verhält sich defensiv

Versucht, Dinge wertzuschätzen, Lösungen zu finden, zu gestalten

Plötzlich war ich verwirrt. Reagierte Charles automatisch und impulsiv oder tat ich das etwa? War Charles der Besserwisser oder war ich es? Wer erwartete Zustimmung oder Ablehnung? in der Lage zu entscheiden, aus welchem Modus heraus er in jedem einzelnen Moment agieren möchte.

Wer war rechthaberisch? Wer war hier der voreingenommene Kritiker? Bevor ich mich wieder sammeln konnte, konfrontierte Josep mich mit einer neuen Frage: »Was kostet es Sie Ihrer Meinung nach, so viel Zeit im Kritikersumpf zu verbringen?« »Was es mich kostet?«, wiederholte ich leise und blickte erst zu Joseph und dann zu Boden. Seine Frage hatte mich getroffen wie ein Blitz. »Ich möchte nicht einmal daran denken, was

meine Kritikergewohnheiten das Unternehmen kosten. Zum einen bekomme ich ein ziemlich gutes Gehalt. Aber angesichts dessen, was ich zuwege bringe, ist das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Und zum anderen vermute ich, dass ich mittlerweile eine vertrackte Situation geschaffen habe, die mein ganzes Team belastet. Es graut mir vor den Besprechungen mit meinen Mitarbeitern. Und die Auswirkungen, die all das auf die anderen Abteilungen hat, mit denen wir zusammenarbeiten … tja, das ist keine schöne Situation!«

Joseph war offenbar zufrieden mit meinen Erkenntnissen und nickte. »Das ist ein wahrer Fortschritt«, sagte er. »Sie machen sich großartig, Ben.« »Großartig? Wovon sprechen Sie? Es ist eine Katastrophe. Können Sie mir bitte einen Rettungsring zuwerfen? Wie komme ich aus dieser Situation wieder heraus?« »Ich könnte Sie herausziehen«, antwortete Joseph, »aber ich werde Ihnen etwas viel Wertvolleres schenken – Instrumente, mit denen Sie sich selbst herausziehen können. Ich bin ein großer Anhänger der ›Lehre-sie-zu-fischen-Philosophie‹. Ich bitte Sie nun, sich an eine Zeit zu erinnern, in der Sie in einer Arbeitssituation im Lernmodus waren.

Haben Sie das Bild? Erinnern Sie sich so deutlich wie möglich daran, wie diese Erfahrung für Sie war. Wenn Ihnen das schwerfällt, sehen Sie sich die Lernmodusseite in der Tabelle an.« Ich erinnerte mich sofort an meine Spitzenleistungen bei der KB Corp. Alles hatte reibungslos funktioniert. Jeden Morgen freute ich mich bereits beim Aufwachen auf die Arbeit. Meine Produktivität sowie die aller anderen war hoch. Wir waren überaus engagiert. Die Kollegen sagten mir sogar, wie gern sie mit mir zusammenarbeiteten. Wobei ich tatsächlich viel Zeit allein verbrachte. Ich lächelte angesichts dieser Erinnerung.

Mein damaliges berufliches Leben hätte im Vergleich zu dem Alptraum, den ich jetzt durchmachte, nicht unterschiedlicher sein können. »Ich hatte gerade einen Gedanken«, sagte ich. »Bei der KB hatte ich nicht so viel mit anderen Kollegen zu tun, außer wenn ich innovative Lösungen für ihre technologischen Fragen entwickeln sollte. Unter diesen Umständen war es nicht schwer, im Lernmodus zu bleiben.« »Ich weiß, was Sie meinen«, sagte Joseph. »Es kann schwierig sein, dieselben Prinzipien auf Ihre aktuelle Führungsposition zu übertragen. Menschen sind schließlich keine Maschinen.« »Das sagt mir meine Frau auch immer«, bemerkte ich. Wir lachten beide.

»Ich möchte sehen, ob ich Sie richtig verstehe«, sagte Joseph. »Bei technologischen Problemen stellt sich bei Ihnen also automatisch und mühelos eine neugierige Lernhaltung ein. Das beherrschen Sie sehr gut. Sie stellen spezifische Fragen, die Ihnen helfen, die Dinge objektiv – quasi aus einer gewissen

Distanz heraus – zu betrachten, Ihre Vermutungen zu überprüfen und die Lage insgesamt einzuschätzen. In solchen Situationen ist Ihnen Folgendes bewusst: Egal, welche Ideen und Lösungsansätze Ihnen auch einfallen, sie sind weder gut noch schlecht. Es handelt sich dabei lediglich um Informationen.

Thomas Edison berichtete bekanntermaßen, dass er zigtausend Fehlversuche brauchte, um die elektrische Glühbirne zu erfinden, und dass jeder Fehlschlag letztlich zum erfolgreichen Ergebnis beitrug.

Mithilfe der neuen Instrumente, die Sie beinmir kennenlernen, können Sie von den Dingen profitieren, die Sie bereits gut beherrschen. Selbstcoaching bedeutet, den Kritikermodus zu erkennen, ihn vom Lernmodus zu unterscheiden und auf Letzteren umzuschalten, wann immer Sie möchten. Sobald Ihnen das gelingt, sind Sie auf dem besten Wege, die Kontrolle über Ihr Leben zurückzugewinnen – sowohl bei ihrer Arbeit als auch zu Hause.« Plötzlich machte etwas Klick bei mir. Ich betrachtete den Umschaltweg auf der Choice Map. »Umschalten ist die Voraussetzung für Veränderung«, rief ich aus. »Wenn man umschaltet, kommt etwas in Bewegung!«

Umschalten ist die Voraussetzung für Veränderung. Wenn man umschaltet, kommt etwas in Bewegung! Joseph nickte begeistert. »So ist es! Sie haben es erfasst! Die Fähigkeit umzuschalten versetzt uns in die Lage, etwas zu verändern. Vorurteilsfrei den eigenen Kritikermodus zu betrachten und dann eine Umschaltfrage zu stellen gehört zu den wirksamsten und mutigsten Dingen, die man für sich selbst tun kann. Es ist der Kern der Veränderung, das, was manche Menschen als Selbstmanagement oder Selbststeuerung bezeichnen. Die Bereitschaft und die Fähigkeit umzuschalten versetzen uns i mer wieder in die Lage, Veränderungen herbeizuführen, da wir uns stets von einem Moment zum nächsten in die Beobachterrolle begeben und uns selbst Lernfragen stellen können. Unsere innere Haltung zu verändern kann uns buchstäblich neue Augen und neue Ohren verleihen!«

Josephs Begeisterung war ansteckend. »Die Alarmknöpfe, die früher möglicherweise unsere Kampf- oder Fluchtreaktion ausgelöst haben, signalisieren uns nun also, dass wir uns im Kritikermodus befinden«, schlussfolgerte ich. »Wir verwandeln solche Auslöser somit in Signale. Und wir suchen nach einer Umschaltfrage, um wieder auf den Lernpfad zurückzukehren. Wir ziehen selbst an den Strippen, anstatt jemand anderem diese Macht zu geben.«

»Genauso ist es«, bestätigte Joseph. »Genauso ist es!« Ich wollte mehr erfahren, vor allem darüber, wie ich die Bereitschaft zur Veränderung entwickeln und aufrechterhalten konnte. Darüber, wie das meine Ergebnisse in der Arbeit verbessern konnte. Aber ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass die Sitzung an diesem Tag zu Ende war.

 

 

Mit anderen Augen sehen, mit anderen Ohren hören

Richtiges Zuhören ist nicht leicht. Wir hören die Worte, aber wir drosseln das Tempo nur selten, um hinzuhören und die Ohren wirklich zu spitzen, um die Emotionen, die Ängste und eigentlichen Sorgen zu hören. 

Kevin Cashman

Zu Beginn unserer nächsten Sitzung stellte ich Joseph eine Frage, die mich bereits seit unserem ersten Gespräch beschäftigte. »Vielleicht ist es ja nur Wunschdenken«, begann ich, »aber angesichts der Probleme, die der innere Kritiker uns bereitet …« Joseph hob seine Hand und signalisierte mir damit, nicht weiterzusprechen. Er sagte: »Niemand von uns kann verhindern, gelegentlich in den Kritikermodus zu verfallen. Es ist nur menschlich.« Dann lächelte er rätselhaft und fügte hinzu: »Aber wir können uns vom Kritikermodus befreien, indem wir diesen Teil von uns einfach akzeptieren. Der Kritikermodus ist nicht das Problem. Es geht darum, wie wir damit umgehen.  Die Formel ist sehr simpel: Kritikermodus–Umschalten–Lernmodus.

Aber sie funktioniert nur, wenn man damit beginnt, den Modus zu akzeptieren.« »Wie bitte? Das ergibt doch keinen Sinn. Wie kann ich frei von etwas sein, das ein Teil von mir ist?« »Es klingt tatsächlich etwas paradox«, stimmte Joseph mir zu. »Aber es ist möglich. Wenn wir akzeptieren, was ist, dann kann ein ebenes Spielfeld entstehen, sodass Veränderung tatsächlich möglich ist. Das Feld zu ebnen kann allerdings auch eine Herausforderung sein, vor allem, wenn der innere Kritiker uns häufig etwas ins Ohr flüstert.

Hat Alexa Ihnen je etwas über den Durchbruch ihres Ehemannes, Stan, erzählt?« »Sie hat so etwas erwähnt«, antwortete ich. »Offenbar haben Sie ihm dabei geholfen, einen Haufen Geld zu verdienen.« »Er ist sehr stolz auf diese Geschichte«, sagte Joseph. »Er hat die QT-Tools genutzt, um sich einen Platz in meiner Ruhmeshalle zu verdienen. Wie Alexa Ihnen vielleicht erzählt hat, ist Stan im Anlagegeschäft tätig. Für ihn war es sehr profitabel, seinen inneren Kritiker zu akzeptieren! Vor ein paar Jahren war Stan sehr voreingenommen und musste immer recht haben.

Er selbst sah sich zwar nicht so, aber viele Menschen in seinem Umfeld taten das. Wenn er mit jemandem in Konflikt geriet oder negative Gerüchte über ihn hörte, schrieb er ihn einfach ab. Stan würde sagen, dass er an seinen Vermutungen und Meinungen festhielt wie ein Bullterrier an einem Knochen.

Er lehnte viele Geschäftschancen aufgrund von Gerüchten, Klatsch und Tratsch und vagen Schuldvermutungen ab. All das rechtfertigte er damit, das Risiko zu minimieren – was nur zum Teil stimmte.

Einmal investierte er eine große Summe in ein vielversprechendes technologisches Start-up-Unternehmen. Etwa ein Jahr später stellte dieses Unternehmen einen Geschäftsführer aus einer Firma ein, die in einen großen Finanzskandal verwickelt war. Der neue CEO war zwar von jeglichem Fehlverhalten freigesprochen worden, aber Stan war trotzdem felsenfest davon überzeugt, dass bei einem solchen Menschen das dicke Ende noch nachkommen würde. Er war kurz davor, sein Geld aus dem Unternehmen abzuziehen, doch gleichzeitig stürzte die ganze Geschichte ihn in einen großen Konflikt. Abgesehen davon, dass dieser CEO eingestellt worden war, schien das Unternehmen alles richtig zu machen.

 

Eines Abends gingen Sarah und ich mit Stan und Alexa essen. Wir sprachen über das Material zum Lern- und Kritikermodus, und Alexa ermutigte Stan, seine Vermutungen zu hinterfragen und seine Investition mithilfe von Umschaltfragen zu bewerten. Sie schlug ihm vor, zu diesem Zweck den BASE Entscheidungsprozess zu nutzen. Stan war damit einverstanden, es auszuprobieren und dann überrascht, wie viel es bei ihm veränderte. Ich habe dieses Tool bereits erwähnt und Ihnen versprochen, es zu erklären. Also so funktioniert es:

Der BASE-Entscheidungsprozess

B Befrage dich! Bin ich im Kritikermodus? Funktioniert dann das, was ich tue/vorhabe?

A Atme bewusst! Sollte ich einen Schritt zurück machen, innehalten und mir neue Sichtweisen eröffnen?

S Sei neugierig! Was geschieht tatsächlich (mit mir, den anderen, in der Situation)?

Welche Informationen fehlen mir noch?

E Entscheide! Wie sieht meine Entscheidung aus? Welche Option wähle ich?

B – Befrage dich! Befinde ich mich im Kritikermodus?

 

Stan reagierte auf eine witzige Weise darauf. Nachdem wir ihm die Merkmale des Kritikermodus beschrieben hatten, räumte er erstaunlicherweise ein, dass vieles davon auf ihn zutraf. Seine Antwort überraschte uns: »Im Kritikermodus zu sein ist meine Stärke!« Wir lachten alle, aber gleichzeitig wussten wir, dass er sein Verhalten nun allmählich ehrlicher betrachtete.

A – Atme bewusst! Sollte ich innehalten, einen Schritt zurück machen und die Situation objektiver betrachten? Stan lächelte angesichts dieser Frage, atmete tief durch, schwieg und räumte kurz darauf ein, dass er alles andere als objektiv war, vor allem, weil so viel Geld auf dem Spiel stand. Er misstraute dem neuen Geschäftsführer tatsächlich, obwohl er noch nicht einmal mit ihm gesprochen hatte.

S – Sei neugierig! Was passiert hier? Wie sehen die Fakten aus? Welche Informationen fehlen mir noch? Was vermeide ich? Wir fragten Stan, ob er irgendetwas unternommen hatte, um objektive Informationen zu erhalten. Hatte er alles, was er brauchte, um ein verantwortungsvolles Urteil zu fällen? Stan erkannte, dass er seine Abneigung gegenüber dem CEO nur aufgrund dessen entwickelt hatte, was ihm zu Ohren gekommen war. Aber Tatsachen? Fehlanzeige! Stan gestand, dass er in Wirklichkeit über keinerlei gesicherte Fakten verfügte. Das war ein richtiges Aha-Erlebnis für ihn.

E – Entscheide! Wie sieht meine Entscheidung aus? Welche Option wähle ich? Stan hatte erkannt, dass er nicht über alle Informationen verfügte, die er für eine kluge Entscheidung benötigte.

Und angesichts seiner großen Investition war er es sich selbst schuldig, die Situation zu überprüfen. Einen Monat später rief er mich an und erzählte mir, er habe sich ausgiebig informiert und herausgefunden, dass der neue CEO fachlich gut war. Stan hatte den Kritikermodus bei sich erkannt und konnte daher seine Vermutungen hinterfragen und eine unvoreingenommene Haltung gegenüber dem CEO entwickeln. Um es kurz zu machen: Stan beließ sein Geld in dem Unternehmen, zwei Jahre später ging dieses an die Börse, und er verdiente ein Vermögen.

Diese Erfahrung brachte Stan zum Nachdenken. Sie war ein wahrer Weckruf für ihn. Da er erkannte, wie viel Geld sein Kritikermodus ihn beinahe gekostet hätte, nutzt Stan den BASE-Prozess nun ständig. Er ist zu einem festen Bestandteil seines Selbstcoachings geworden. Er scherzt sogar darüber, wie fest er diese Fragen mit seinem Gehirn verschaltet! Nichts dergleichen wäre passiert, wenn er nicht in der Lage gewesen wäre, den Kritikeranteil bei sich selbst zu erkennen und zu akzeptieren, anstatt ihn zu verdrängen.

Der BASE-Prozess beginnt mit Aufmerksamkeit und dem Akzeptieren von Gegebenheiten und baut dann darauf auf. Für Stan hat sich das mit Sicherheit gelohnt. Wenn Sie Stan heute begegneten, würde Ihnen nach wie vor auffallen, wie eigensinnig und voreingenommen er sein kann. Er kennt diesen Teil von sich sehr gut und akzeptiert ihn, aber er lässt sich davon bei der Entscheidungsfindung nicht mehr blenden. Er kann seinen inneren Kritiker sogar mit Humor betrachten.« »Das ist eine tolle Geschichte!«, sagte ich und meinte es auch so. Ich entdeckte die BASE-Formel in meinem Arbeitsbuch

und machte mir ein paar Notizen dazu. »Stan hat dadurch viel Geld verdient, und meine Frau hatte endlich keine Probleme mehr mit ihrem Gewicht«, fügte Joseph hinzu. »Hätten sie weiterhin ihre Zeit vergeudet und ihren inneren Kritiker urteilen lassen, wären sie – was ihre gewünschten Veränderungen betraf – nicht einmal bis zum ersten kleinen Etappenziel gekommen.«

»Das klingt alles wirklich großartig. Aber etwas irritiert mich ein bisschen. Der Begriff »Lernmodus« klingt irgendwie soft. Führungskräfte müssen aber stark und entschlossen sein. Sie müssen sich durchsetzen und schwerwiegende Entscheidungen fällen. Ich wüsste nicht, wie mir ein stärker ausgeprägter

Lernmodus dabei helfen könnte.« »Und was ist mit Alexa?«, konterte Joseph. »Wie geht sie mit schwierigen Entscheidungen um?«

»Punkt für Sie«, antwortete ich rasch und dachte an einige schwierige Entscheidungen, die Alexa getroffen hatte, mit denen ich nicht gern konfrontiert gewesen wäre. Sie konnte knallhart sein, wenn die Situation es erforderte. Aber jeder, der für sie arbeitete, fühlte sich von ihr respektiert, auch wenn sie sehr fordernd war. »Zwischen einem ›harten Lernmodus‹ und einem ›harten Kritikermodus‹ besteht ein entscheidender Unterschied«, erklärte Joseph. »Man kann eine Aufgabe mit beiden Haltungen erledigen. Eine Führungskraft im Lernmodus ist allerdings auf eine Weise tough, die sowohl Loyalität und Respekt als auch die Zusammenarbeit und Risikobereitschaft fördert. Führungskräfte im Kritikermodus erzeugen eher Angst und Misstrauen bei den Menschen in ihrem Umfeld und damit sind Konflikte vorprogrammiert.«

Spielte Joseph hier auf meinen Führungsstil und mein alptraumhaftes Team an? Anstatt das zu thematisieren, sprach ich zunächst einen weiteren Vorbehalt an, den ich in Bezug auf den Lernmodus hatte. »Verlangsamt der Lernmodus die Abläufe nicht? Man steht ja ständig unter Druck, und ein Termin jagt den anderen.

 

Mit anderen Augen sehen, mit anderen Ohren hören

Manchmal wanke ich regelrecht unter der Last all der Dinge, die ich innerhalb kürzester Zeit erledigen muss. Wenn ich die ganze Zeit im Lernmodus wäre, würde die Arbeit dann nicht endlos dauern? Würde ich dann nicht noch mehr in Verzug geraten, als es ohnehin schon der Fall ist?« Joseph beantwortete meine Frage mit weiteren Gegenfragen: »Wie oft haben Sie Fehler gemacht, wenn Sie in Eile waren? Wie oft haben Sie sich oder anderen dann die Schuld dafür gegeben und mussten alles noch einmal machen? Wie viel Zeit hat das gekostet? Wie oft waren Sie ungeduldig oder unhöflich gegenüber jemandem, weil Sie in Hektik waren, und haben anschließend festgestellt, dass die betreffende Person seitdem nicht mehr viel mit Ihnen gesprochen hat? Welchen Preis bezahlt man, hinsichtlich der Zeit, der Ergebnisse und sogar der Loyalität, wenn man so mit anderen Menschen umgeht?«

Ich starrte Joseph einfach nur an. Es war, als hätte er mich rund um die Uhr, fünf Tage pro Woche in meinem Büro beobachtet. Schließlich fügte er hinzu: »Solche Dinge passieren, wenn der Kritikermodus in der Arbeit das Steuer übernimmt. Von den Leuten in meiner Question Thinking Ruhmeshalle

habe ich dagegen immer wieder gehört, wie sehr der Lernmodus ihnen tatsächlich hilft, Zeit zu sparen und die Produktivität zu steigern. Einer von ihnen behauptete sogar, Schnelligkeit und Produktivität seien keineswegs das Gleiche. Dann  sagte er scherzend, der innere Kritiker lege sowohl der Produktivität als auch der Effektivität Bremsklötze an. Der innere Kritiker legt sowohl der Produktivität als auch der Effektivität Bremsklötze an. »Der innere Kritiker sorgt für Bremsklötze, das gefällt mir«, sagte ich. »Sicherlich wäre das Leben viel einfacher, wenn wir alle den Kritikermodus in uns selbst erkennen und akzeptieren, auf den Lernmodus umschalten und aus dieser Haltung heraus agieren könnten.«

»Wie wahr!«, stimmte Joseph mir zu. »Das ist eins der obersten Ziele des Question Thinking. Stellen Sie sich vor, wie die Arbeit aussehen würde, wenn die Mitarbeiter genau das die meiste Zeit tun würden. Sie hätten eine Lernkultur. Sie könnten sogar behaupten, ein lernendes Unternehmen zu sein. Und wie

sieht es bei Ihrem Team aus, Ben? Über das Sie so viel klagen? Befindet es sich meistens im Kritiker- oder im Lernmodus? Teams und sogar Organisationen folgen der Stimmung und dem Verhalten der Leiter, das wissen Sie sicherlich. Ihre Ergebnisse als Teamleiter werden sich nur verbessern, wenn die Ergebnisse Ihres Teams besser werden.« Er machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Betrachten Sie das, worüber wir gesprochen haben, als praktische Übung, so wie manche Menschen Yoga, Achtsamkeit oder Meditation praktizieren. Richten Sie jeden Tag Ihre gesammelte Aufmerksamkeit darauf.

Manchmal stündlich, manchmal in jedem Moment. Je mehr Sie das üben, desto besser wird es Ihnen gelingen. Einer meiner Klienten bezeichnete diesen Prozess als Neuverdrahtung seines Geistes. Ich denke, das trifft es gut. Schon bald werden Sie mit anderen Augen sehen und mit anderen Ohren hören.«

Joseph warf einen Blick auf seine Uhr. »Wir haben uns schon eine ganze Weile unterhalten. Wir könnten eine kleine Pause einlegen und dann den nächsten Schritt machen. Oder wir warten, bis wir uns das nächste Mal treffen. Was wäre Ihnen am liebsten?«

Ich war im Zwiespalt. Einerseits benötigte ich Zeit, um das zu verarbeiten, was wir gerade erörtert hatten. Aber andererseits war ich neugierig darauf, was Joseph mir noch erzählen wollte. Ich wusste, dass es mir bei meinen anstehenden Gesprächen mit Charles helfen würde – und auch bei Grace. Ich brauchte nur eine Sekunde, um mich zu entscheiden. »Okay, gehen wir es an!«

 

 

 

 

 

 

 

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