Buchauszug Hajo Schumacher: „Solange Du Deine Füsse auf meinen Tisch legst…“

Buchauszug aus Hajo Schumachers „Solange Du Deine Füsse auf meinen Tisch legst… Mein schrecklich lustiges Leben als Vater“

 

Buchauszug aus Hajo Schumachers „Solange Du Deine Füsse auf meinen Tisch legst… Mein schrecklich lustiges Leben als Vater“, Eichborn Verlag, 240 Seiten, 16 Euro: https://www.luebbe.de/eichborn/buecher/sonstiges/solange-du-deine-fuesse-auf-meinen-tisch-legst/id_5911421

 

Spießer vs Hippies

Alle Eltern eint der Wunsch, auf gar keinen Fall spießig sein zu wollen. Die traurige Wahrheit ist: Es gelingt kaum jemandem. Außer uns natürlich.

Wenn ich am Sonntagabend den Tisch decke, achte ich peinlich genau auf kunstvolle Unordentlichkeit. Auf gar keinen Fall darf jeder das gleiche Besteck haben. Wir haben zum Glück eine große bunte Auswahl an Geschirr, weil von ursprünglich sechs oder acht gleichen Tellern bis heute maximal drei überlebt haben. Oder Servietten. Ich nehme eine von Weihnachten, eine aus der Osterkollektion, einmal das Modell Emil Nolde und weiter hinten im Schrank finde ich immer noch ein Käpt’n-Blaubär-Modell von einem jener frühen Kindergeburtstage, als die Kleinen noch süß waren, jedenfalls in der Erinnerung. Ein kunterbunter Essenstisch, das ist meine Kampfansage an die bürgerliche Gesellschaft.

Ich bin bro-mäßig lässig, wenn Karl die Küche betritt, aber in Wirklichkeit hoch gespannt. Wird der Große die Augenbrauen lüpfen und ein kurzes »Mrmh« knurren? Und was mag dieses »Mrmh« heute bedeuten? Zustimmung? Kritik? Verletztsein?

Den Begriff »reden« definieren wir bei unseren Jungs relativ großzügig. Ganze Sätze sind es nicht, streng genommen versteht man nicht mal einzelne Wörter. Mit dem Erreichen der siebten Klasse geschehen ja seltsame Dinge im Sprachzentrum von Knaben. Schlagartig verkümmert die Artikulationsfähigkeit; noch ein Beweis, dass die Evolution rückwärts funktioniert. Unser großes Kind spricht vorwiegend Neandertalerisch. Der Junge macht Geräusche, vor allem eines, das klingt wie ein abgehacktes Röcheln mit einem variabel modulierten brummigen Unterton, ungefähr wie »Mrmh«. Seit wir die Party zum 18. Geburtstag bezahlt haben, sind wir fest überzeugt, dass das Brummige etwas weniger geworden ist. Er meint es sicher nur gut mit uns; er will uns nicht überkommunizieren. Deswegen wird mit »Mrmh« jede Frage beantwortet, jede Debatte bestritten, was immer dann zur Interpretationsaufgabe wird, wenn es um Fakten geht.

Fragt der teilnahmsvolle Vater »Wie war’s denn in der Uni, mein Junge?«, dann kann man sich für das »Mrmh« was Passendes aussuchen. Auf die Frage der leistungsorientierten Mutter, wie denn die Klausur benotet worden sei, ist ein »Mrmh«« wenig hilfreich. Wir übersetzen dieses »Mrmh« aus emotionalem Selbstschutz mit einer Note zwischen Zwei und Drei, weil der Junge eine Eins sicher stolz und klar ausgesprochen hätte, eine Fünf hingegen mit einer Tirade über die mangelnde pädagogische Qualifikation des Lehrpersonals erklärt worden wäre.

Eigentlich hat der Junge recht. Man muss nicht alles kommentieren oder jeden bewusstlos quatschen. Dafür gibt es Facebook. Im persönlichen Umgang dagegen zwingt uns ein »Mrmh«, endlich wieder auf Zwischentöne zu achten. Auf die Frage »Brauchst du Geld?« kommt etwa ein sehr viel entschlosseneres »Mrmh« als auf die Bitte, den sorgenvollen Eltern gnädigerweise mitzuteilen, wann der junge Herr am Sonntagmorgen nach Hause zu torkeln gedenkt. Das ungehaltene »Mrmh« kann alles heißen, von Mitternacht bis Morgengrauen. Die Mutter bangt inzwischen, ob der Junge je wieder richtig spricht. Unsinn. In der männlichen Entwicklung gibt es nun mal zwei Schweigephasen, vor der Beziehung und währenddessen.

Hajo Schumacher (Foto: Reto Klar)

Am meisten fürchte ich mich vor dem »Mrmh«, das übersetzt etwa lautet: »Das ist doch wieder so eine bürgerliche Scheiße.« Das Bürgerliche ist ja eine Grundkonstante unserer Gesellschaft: Es gibt bürgerliche Parteien, gutbürgerliche Küche und bürgerschaftliches Engagement. Daran ist nichts auszusetzen, außer: »Bürgerlich« ist eine Chiffre für »spießig«. Und wenn sich Eltern und Kinder in einem einzigen Punkt einig sind, dann hier: »Spießig« ist rundherum abzulehnen und bestenfalls als ironisches Zitat akzeptabel. Eintopf zum Beispiel. Eigentlich super bürgerlich-spießig, aber lecker, wenn genug Karotten darin schwimmen.

»Leistung« ist auch so eine Spießer-Kategorie. Wir sind natürlich eine egalitäre Familie. Elite ist uns unheimlich, da sind wir ganz SPD. Nicht auffallen, schon gar nicht mit Leistung. Gewinnen ist peinlich. Gleichheit ist unsere Religion. Wir wollen nichts Besseres sein. Naja, eigentlich wollen wir schon, besonders die Chefin, aber wir trauen uns nicht. Weil sonst jemand sagt, dass wir wohl was Besseres seien. Oder spießig.

Wir lassen das mal lieber mit der Leistung, vor allem in der Schule. Für gute Noten entschuldigen wir uns bei anderen Eltern, um nicht als bürgerliche Aufstiegshirnis zu gelten. Natürlich tragen wir die Gene der Hochbegabung in uns; irgendwo müssen die Jungs ja ihre unglaubliche Kreativität beim Ausreden-Erfinden herhaben. Aber wollen wir die Einsamkeit des spießigen Strebers durchleiden, der beim Aufzeigen schnippt und in Partizipien spricht? Manchmal aber werden wir dazu gezwungen. Am Ende der vierten Klasse zum Beispiel.

Früher war die Schule wie Berliner Fußball. Mit einem »genügend« hatte man seinen komfortablen Mittelplatz gefunden, Ausnahme Sport, Werken und Handschrift. Später gingen trotzdem alle aufs Gymnasium. Die beiden mit dem besten Abitur wurden Ärzte, um später die Alkoholprobleme jener zu therapieren, die erst in die Soziologie und dann in die Medien abgerutscht waren.

Heute kann man Viertklässlern den Zauber des Genügens nicht mehr nahe bringen. Seit Wochen kommt Hans mit neuen Flüstermeldungen nach Hause. »A geht aufs Canisius«, wispert er, »B geht aufs Goethe« und »C geht aufs Wegscheider«. Willkommen, oh Sinnhaftigkeit des Berliner Bildungssystems. Weil die Finnen lange gemeinsam zur Schule gehen und einst so gut bei Pisa waren, sollen alle Berliner Schüler bis zur sechsten Klasse zusammen lernen. Das hilft zwar nicht bei Pisa, aber dafür bleiben die Berliner Kinder auch nicht wirklich beisammen.

Denn es gibt eine Ausnahmeregel: Wer auf ein Spezialgymnasium möchte, das ab der fünften Klasse Latein anbietet, Russisch, Spanisch oder Tischtennis, der kann nach der vierten Grundschulkasse rübermachen zur bürgerlichen Bildungselite. Das ist natürlich peinlich, weil bürgerlich unfinnisch, andererseits: Sollen unsere Kinder auf der Brot- oder Butterseite des Lebens landen? Eben.

Hans hat keine besonderen Fähigkeiten oder Interessen, woher auch? Unser Sohn kann nicht mal »Alea iacta est« aus Asterix zitieren. Aber die meisten seiner Kumpels verlassen die Grundschulklasse, weil der Sozialstatus es so will. Die Bedingung: Das Kind muss Latein lernen wollen. Da gehen wir natürlich mit. Also auf zum Bewerbungsgespräch bei den Elite-Gymnasien. Die Chefin hat schon ihr Business-Kostüm gebügelt, und ich habe die Strickkrawatte rausgeholt. Wichtig: kein Knoblauch am Vorabend, mit Hans »Bitte« und »Danke« üben und keine Witze über alleinstehende Veganerinnen. »Reiß dich zusammen«, bellt die Chefin, einfach so. Dabei habe ich gar nichts gemacht. Das Leben in der Champions League ist mir schon unheimlich, bevor es begonnen hat.

Wir kennen diese Prüfungssituationen. Mit sehr bürgerlicher Panik erinnere ich mich an die Schuleingangsuntersuchung, die die schlichte Frage beantworten soll: Ist unser Sohn mit sechs Jahren reif für die Grundschule? Eigentlich eine klare Sache. Wären da nicht diese Restzweifel, die mit unserem pädagogischen Unvermögen korrelieren.

Ausdauernd haben wir dem Kleinen griechische Buchstaben in den Joghurt gemalt, die Grundrechenarten mithilfe von Gummibärenhaufen geübt und ein Fachbuch mit den gebräuchlichsten Sinnsprüchen der Welt durchgearbeitet. An der Königsdisziplin »Schuhezubinden« sind wir leider knapp gescheitert.

»Du musst nicht nervös sein«, erklärte ich Hans an der Klingel des Kinder-TÜV mit bebender Stimme. Er guckte mich fragend an. Ihm war die Tragweite der nächsten Stunde nicht bewusst. Vorsichtshalber hatte ich ihm drei Mal die Zähne geputzt und kontrolliert, ob er aus Versehen zwei gleiche Socken angezogen hatte, ohne Löcher, was praktisch unmöglich ist.

Im Wartezimmer saß ein griechischer Vater mit seinem Prinzen. Während Hans das Spielzeug lärmend auseinander warf, debattierte der Sohn Hellas’ mit dem Herrn Vater über Getriebetechnologie bei Mondautos. Hans versuchte, die Lampe mit Bauklötzen zu treffen. So hat Dirk Nowitzki auch angefangen, beruhigte ich mich. Wenn hier versteckte Kameras angebracht waren, käme der Bengel bestenfalls zur Baumschule.

Endlich an der Reihe. Hans wurde gewogen und vermessen, barfuß. Dummerweise hatte ich die Zehennägel vergessen, seit Weihnachten ungefähr. Sind Maulwürfe in der ersten Klasse zugelassen?

Stufe zwei: Eine Kinderärztin mit Röntgenblick. Sie sagte dumme Dinge wie »Marangula«, »Kiribiri« und »Fangofänger«. Hans lachte sich schlapp, wiederholte aber fehlerfrei. Doch ein Wunderkind. Dann Kreise bunter Punkte, in denen sich angeblich Zahlen verbargen. Ohne LSD erkannte ich bestenfalls eine 438,7. Hans dagegen fand 5 und 9 beim ersten Blick. Verstohlene Tränen des Vaterstolzes.

Schließlich das große Finale: Wörter ergänzen. »Schoolade« ging fehlerfrei, »Kro-odil« auch, nur bei »Flugzeu-« sagte Hans »Flugzeugträger«. Frau Röntgen guckte mich fragend an. »Er arbeitet mit seinem großen Bruder manchmal historische Bücher durch«, erklärte ich fast wahrheitsgetreu. In Wirklichkeit hockten die beiden zu oft daheim vor dem Fernseher, um gebannt Krawall-Dokumentationen über Kriegsgerät und historische Schlachten zu gucken. Jede Klasse braucht einen Clausewitz. »Alles in Ordnung«, sagte Frau Doktor und wies uns die Tür. »Ohne Flei- kein Prei-«, erklärte ich Hans auf dem Weg zur Eisdiele. Darauf erst mal zwei Kugeln Scho-olade, in der Waffe-.

Geht es uns eigentlich allein so, oder wollen fast alle Eltern irgendwie total flippig sein, superlocker und in tiefem Vertrauen auf die Zukunft durchs Leben schweben anstatt dieser ewigen Spießerei? Ich gestehe: Mentalmäßig sind wir Hippies. Ein VW-Bus mit Pril-Blumen ist mir allemal lieber als ein scheckheftgepflegter SUV. Es sind wirklich nur wenige Bereiche, in denen meine Bürgerlichkeit durchbricht. Korrekter Gebrauch unserer Sprache zum Beispiel.

Neulich hat Hans die deutsche Rechtschreibung neu erfunden, eine wissenschaftliche Großtat. Höchste Zeit für die nächste Rechtschreibreform, die letzte ist ja ewig her. Und ausgerechnet unser Sohn gibt wesentliche Impulse. Vielleicht haben wir ja doch ein Wunderkind? Nein, lieber nicht. Es gilt schließlich: Um normal talentierten Nachwuchs für hochbegabt zu halten, müssen die Eltern ziemlich spießig sein.

Hansens Reform zielt auf das Groß- und Kleingeschreibe, das Hans »groß- Und kleingeschreibe« geschrieben hätte. Denn »Groß« ist ein Adjektiv, das kleingeschrieben wird, während »das Und« einen Artikel hat, weshalb es großgeschrieben wird. Eine Weile habe ich es mit Argumenten versucht. »Großgeschreibe « sei kein Adjektiv, sondern ein Substantiv, weil immer das entscheidet, was hinten im Wort steht, so wie bei »Klassenarbeit« oder »Zimmeraufräumen«. Und »Geschreibe« sei ein Substantiv, wenn auch in seiner Spezialform als substantiviertes Verb, weshalb man ein »das« davorsetzen könne.

Hans nickte. Neulich schrieb unser Groß- und Kleinreformator: »Der Lehrer Spielt am klawir.« Der Satz hat viel Schönes, zum Beispiel eine betörende Portion Logik und immerhin drei von fünf Wörtern korrekt geschrieben, wenn auch mit »Lausiger« (kommt von »die Laus«, also groß) »klaue« (»klauen« ist ein Verb, also klein). »Der Lehrer« ist zu Recht großgeschrieben, weil erstens Satzanfang und zweitens Artikel; darauf immerhin haben wir uns inzwischen verständigen können. Aber warum »Spielt«?

Hans guckte mich an wie einen Lernverweigerer. »Ist doch wohl klar, Paps«, sagte mein Schlauberger, »es heißt doch ›das Spielen‹. Also groß. Und ›klawir‹ hat keinen Artikel, also klein.« Matt merkte ich an, dass man ja auch »das Klavier « sagen könne, der Artikel mithin nicht immer zwingend vor dem Substantiv stehe. Die Korrektschreibung des Tasteninstruments schenkte ich ihm, weil ich die Begründung schon kannte: Ein »klawir« macht Musik, der »wir« alle zuhören.

Praktischerweise wird der Vokal in »wir« lang gesprochen trotz fehlendem Dehnungs-e, weshalb ein formal falsch geschriebenes Wort auf einmal die überwältigende Anmut der akustischen Richtigkeit ausstrahlt.

Kinder schreiben nicht falsch, weil sie dumm sind, im Gegenteil: Aus einem Haufen wirrer Anweisungen picken sie jene heraus, an die sie sich erinnern.

Genau an diesem Punkt geraten mein innerer Hippie und mein innerer Oberstudienrat in einen heftigen Streit. »Lass das Kind doch mal in Ruhe. Der macht schon seinen Weg«, sagt der eine, während der andere entgegnet: »Je früher wir diese Fehler bekämpfen, desto weniger hat das Kind später damit zu tun, all den Unsinn wieder loszuwerden. Es gibt nun mal Regeln, und die kann, nein, die muss man lernen.« Ergebnis des inneren Zwistes: unentschieden.

Auf einen anderen spießbürgerlichen Wert wiederum kann mein innerer Hippie sehr gut verzichten: Pünktlichkeit. Es sei denn, der Vater hat gekocht und alles wird kalt, nur weil die Familie »ganz schnell« noch mal im Internet was gucken muss. Es gilt: Wenn andere unpünktlich sind, darf ich mich verletzt fühlen. Wenn ich selbst eine Sekunde zu spät komme, ist es Ausdruck meiner John-Lennon-haften Lockerheit, die es zu tolerieren gilt.

Wollen wir in einem Land leben, wo eine Viertelstunde ein Verbrechen ist? Auch für Eltern gelten Menschenrechte, das freie Verfügen über die eigene Zeit zum Beispiel. Leider sehen das nicht alle Mitbürger so entspannt wie wir. Neulich etwa bekam ich von einer pädagogischen Fachkraft einen gehörigen Anpfiff, nur weil ich Hans Montagmorgen als Letzten vor der Schule abgesetzt hatte. Die Autouhr zeigte 19:32, was angesichts von Sommerzeit und gelegentlichen Batterieausfällen leider alles Mögliche bedeuten kann. Klar, dass das Kind mit Ranzen, Frühstücksbeutel, Turnzeug und Bilderrolle nicht ganz so schnell sprinten kann wie sonst. Aber wer verlangt denn den ganzen Klimbim? Eben. Die Pädagogen.

Das Problem ist recht einfach: Weil ich Spießigkeit ablehne, haben wir kein Schlüsselbrett, was wiederum zu allmorgendlichen Ritualen führt, die in ihrer Zwanghaftigkeit schon fast bürgerliche Züge annehmen. Wir waren natürlich spät dran. Der Junge musste zur Schule. Ich tastete meine Taschen ab. Ich verhörte den Sohn. Wer sollte den Schlüssel sonst haben? Doch er guckte ausnahmsweise nicht schuldbewusst. Verstellte er sich?

Ich spähte ins Kinderzimmer: Nichts zu entdecken. Spielzeuge und Autoschlüssel sehen ja inzwischen nahezu gleich aus. Ich durchforstete Ranzen und Brottasche, die abfahrbereit im Flur standen. Banger Blick auf die Uhr. Selbst mit dem Helikopter wären wir zu spät gekommen. Ruhe bewahren, nicht aufregen, noch mal von vorn. Im frühmorgendlichen Delirium legt man Dinge ja gern an wunderlichen Orten ab. Zahnbürsten, Brieftaschen, Kontoauszüge sind zuverlässig im Kühlschrank zu finden. Aber kein Schlüssel, auch nicht unter dem Käse. Ich vergrößerte den Fahndungsring. Bestimmt im Bad. Kramen im Zeitschriftenstapel. Prüfblick durch die Klorolle. Kein Schlüssel. Blieb der Mülleimer. Rechtzeitigen Tütenwechsel predige ich so oft, wie ich mich nicht daran halte. Bürgerliche Konventionen. Sollte ich da jetzt hineingreifen? Gütig verdeckte das Kaffeepulver den Blick auf die Salatreste. Wir sollten mit dem Trennen beginnen: Glas, Flaschen, Plastik, Bio, Schlüssel. Aber Mülltrennen ist echt bürgerlich. Ich tastete den Beutel ab. Von außen fühlte sich alles an wie Autoschlüssel.

Da kam mir der erlösende Gedanke: klar, die Waschmaschine. Eben erst angestellt. Bei wie viel Grad kann man Autoschlüssel waschen? Color-Waschmittel dürfte jedenfalls nicht verkehrt sein. Hans saß an seinem Schreibtisch und malte Buchstaben. Das tat er sonst nie. Ein unterbewusstes Schuldeingeständnis? »Wenn du den Schlüssel irgendwo versteckt hast, gibt es ein Jahr lang kein Fernsehen«, drohte ich. Das Kind weinte fast. Ich auch.

Sprint ins Bad. Die Waschmaschine lief seit einer Viertelstunde. Not-Abbruch! Sofort. Tropfnasse Wäsche in den Korb. Jedes Kleidungsstück durchfriemeln. Kein Schlüssel. Hans guckte mir über die Schulter. Wehe, du grinst jetzt, Bengel. Ich werde dich enterben. Und deine Mutter gleich mit. Bestimmt hatte sie den Schlüssel eingesteckt. Anruf auf dem Handy. Mailbox. Verzweiflung. Exakt jetzt bimmelte die Schulglocke. Welche Story hatten wir der Klassenlehrerin noch nicht aufgetischt? Anruf beim Autohaus. Ersatzschlüssel würde vier Tage dauern, Programmieren und so. Last exit Drahtbügeltrick. Hilft leider nicht in Zeiten versenkter Türknöpfe. Früher war alles besser, auch das Autoknacken.

Ich verhörte das Kind erneut. Leibesvisitation. War heute Klassenarbeit? Spielten wir so ein dämliches Spiel, das er im Fernsehen gesehen hatte? Oder war ich der künftige Star des Youtube-Filmchens »Bekloppter Vater sucht Autoschlüssel«? Robben unter den Küchentisch. Alle Sofapolster hochheben, schütteln. Mit dem Besenstiel unter die Sitzmöbel.

Kapitulation. Stolz wie Bolle stieg Hans ins Taxi zur Schule. Kollabierender Vater.

Am Nachmittag ein Anruf aus der Schule. Hans hatte den Autoschlüssel im Sekretariat abgegeben. Also doch. Die kleine Mistkröte. Bei der abendlichen Inquisition erklärte mir mein Sohn in aller Ruhe, dass der Schlüssel aus dem Turnbeutel gefallen sei – den leider ich am Morgen gepackt hatte. »Kann doch mal passieren«, sagte ich beim Elterngespräch. »Aber nicht so oft«, entgegnete ein sichtlich aufgebrachter Pädagoge. Bürgerlicher Spießer.

Die Wut des Lehrers mochte auch damit zu tun haben, dass wir ausgerechnet wenige Nachmittage zuvor wegen eines kleinen technischen Problems schlicht vergessen hatten, den Sohn aus der Nachmittagsbetreuung zu holen. Es standen widersprüchliche Informationen in unserem gemeinsamen digitalen Kalender. Vielleicht sollte die Schule einfach kostenpflichtige Übernachtungsmöglichkeiten anbieten, kuschelig unter der Schulbank. Da hätten alle was davon: Eltern, das unterfinanzierte Bildungssystem und die Kinder, die Abenteuernächte toll finden.

Im Herbst immerhin haben wir das Kind einmal überpünktlich abgegeben, eine Dreiviertelstunde vor der Deadline, was uns selbst am meisten verblüffte. Wir hatten einfach die Umstellung von Sommer- auf Winterzeit übersehen. Drei Tage später hatten wir unsere individuelle Pünktlichkeit aber zurückgewonnen und kamen zuverlässig wie immer, auf den letzten Drücker.

Wir haben nun mal unterschiedliche Rhythmen, diese spießige Gesellschaft und wir lockeren Vögel. Stünden wir früher auf, wären alle noch müder. Gingen wir früher ins Bett, würde der Familie die Quality Time fehlen. Wird höchste Zeit, dass Schlafmeilen eingeführt werden: Für jede Stunde, die der Ernährer nach Mitternacht in die Falle kommt, darf er den Spross eine Minute später wahlweise bringen oder holen. Wir melden uns dann gleich mal für ein Upgrade in die dritte Stunde.

Die schlimmste Form der Spießigkeit ist die verbreitete Nippes-Neigung. Stolz stellen bürgerliche Eltern die Kunstwerke ihrer Kinder in der ganzen Wohnung aus, an Wänden, auf Fensterbänken, oft schon an der Wohnungstür. Nein, Salzteig-Türschilder sind nicht lustig, nicht mal als ironisches Zitat. Wir hatten diese Phase auch, und wie. Die Bastelarbeiten der Kinder machten unsere Wohnung nahezu unbewohnbar. Aber man will den Fleiß und die Kreativität sichtbar lobpreisen, weshalb jeder freie Platz zur Ausstellungsfläche wird.

Vor lauter Osterhasen und Schneemännern der Jahrgänge 1998 bis 2015 konnte man kaum noch durch unsere Fenster spähen. Letzte Sichtlöcher boten die ausgeschnittenen Schneeflocken, bis der Große begann, in Großserie graffitiartige Schriftzüge zu produzieren, die je eine halbe Wand füllten. Wahrscheinlich übte er zu Hause schon mal, was er demnächst auf Nachbars Garagentor sprühen wollte.

Die verklebten Fenster heben keinesfalls den Wohnwert, sondern sind in klassisch-bürgerlicher Manier vor allem ein Signal an andere Bürgerliche: Seht her, unsere empfindsamen Kinderseelen erfahren tagtäglich Wertschätzung durch das repräsentative Ausstellen ihrer Werke. Zarten Elternseelen bleibt die Fensterputzerei erspart. Und Ökos freuen sich über die Wärmedämmung. Reststrahlen fahlen Sonnenlichts weisen auf die Bedeutung der Materialauswahl hin. Nimmt man billiges Papier, gilben die Fensterflocken mit den Jahren, als hätte ein Hund in den Schnee gemacht. Weit schlimmer sind Naturmaterialien. Neulich erst kollabierte der Kürbis, den wir zu Halloween ausgehöhlt und mittels kühner chirurgischer Schnitte in eine Art orangenen Altmaier verwandelt hatten. Wir wollten die Feldfrucht eigentlich so lange in der Küche stehen lassen, bis der Adventskranz den Platz einnehmen würde.

Auf dem Küchenbord liegen unter einem Fettfilm begraben seit Kita-Tagen zwei Tonklumpen. »Schäferhunde«, hatte Hans einst erklärt. Von der Wohnzimmerlampe baumelt ein zählebiges Wäscheklammerkrokodil. Immerhin löst sich der Klorollenhalter auf Kleiderbügelbasis langsam auf.

Nichts ist ja quälender als bastelarbeitsfreie Flächen in der Wohnung. Sonst denkt der Besuch noch, unsere Kinder seien nicht kreativ. Als der Kürbis zusammenfiel, staubte es gewaltig. Flach atmen, Fenster auf. Sind Schimmelsporen eigentlich tödlich oder Abhärtung für die Kinder? Vielleicht sollte ich doch die Bundeswehr anrufen, Abteilung chemische Kampfstoffe. Ach was: Wer drei Tage getragene Jungssocken überlebt, weiß, dass Augenbrennen vergeht.

Eine Weile freuten wir uns, wenn in der Schule wieder die Weihnachtsgeschenkproduktion angeworfen wurde. Kerzenhalter kann man nicht genug haben, vor allem wenn die Fenster mit Bastelarbeiten vollverdunkelt sind. Bei Weihnachtsgeschenken komme es nicht auf Größe und Preis an, sondern auf die vielen guten Absichten, die damit verbunden seien, las ich neulich in einem Erziehungsratgeber. Okay, Kinder, das nehmen wir dann mal ernst. Ab sofort bastelt Vati gnadenlos zurück. Ich drohte, in der Domäne Dahlem einen Strohballen zu erwerben, aus den Latten vom Babybett eine Krippe zusammenzunageln und mich in ein Ochsenkostüm zu zwängen. Zu Weihnachten gibt es ein Krippenbild mit der Chefin als Jungfrau Maria. Aus dem Reststroh würde ich mit Lassoband dicke mannshohe Sterne basteln, die die Türen zu den Jungszimmern schalldicht verschlössen. Damit ich das Geheule nicht hören müsste, wenn es statt Elektronikschrott zum Fest nur Selbstgebasteltes von den Eltern gäbe, total herzlich, mit ganz viel guten Absichten.

So langsam haben die Jungs kapiert, dass man erstens basteln können muss und zweitens die Ergebnisse wirklich mögen sollte. Mein innerer Hippie brüllt: »Beides nein.« Und der Bürgerliche in mir hält ergeben die Klappe.

Unsere Einstiegsdroge in die Bastelphilie war die Kastanie. Vor knapp 20 Jahren, als unser Großer seinen ersten Herbst in einer Kinderaufbewahrungsanstalt zubrachte, erduldeten wir erstmals das Oktoberritual: Kastanien sammeln, Blätter dazu und was sonst noch so rumliegt. Traumatische Erinnerungen an die eigene Kindheit: Kurz nach dem Krieg hatten wir uns den Herbst ebenfalls mit Sammeln vertrieben. Nur fehlte damals dieser Kirchentagsblick. Wir klaubten halt Blätter auf und zerpflückten sie. Wenn Großstädter heute buntes Herbstlaub sehen, werden sie umgehend von Naturgefühlen ergriffen, fangen an zu meditieren und bestellen was mit Filz aus dem Manufactum-Katalog.

In unserem ersten Jahr mit Kind und Kita waren wir noch sehr gerührt, wie die Erzieherinnen die bunten Blätter auf ein Blatt Papier klebten, während die Kinder sich über das Fernsehprogramm austauschten. Stolz hängten wir das Herbstbild in die Küche, wo es sich den Winter über im Dampf der Kürbissuppe in Kompost verwandelte. Zu den Blättern kamen die Kastanien. Wegen der Verletzungsgefahr erledigte das pädagogische Personal das Anbohren der Früchte, weshalb die Kinder nicht basteln lernten, sondern zugucken. Die Stelzen aus ökologisch unbedenklichen Zahnstochern hielten natürlich nicht. Streichhölzer sind zwar giftig, aber stabiler. Was kein Vorteil sein muss, weil die Viecher dann bis zum Frühjahr herumstehen. Bis heute rätseln wir, ob es Maden oder Würmer waren, die aus den Kastanien krochen. Zusammen mit dem gammelnden Blätterbild ergab sich jedenfalls ein hübsches Biotop, das wir mit Rücksicht auf die zarten Seelen erst entsorgten, als die Kinder schliefen.

Nun gehen wir etwa in die zwanzigste Saison Herbstmüll. Unsere Naturbegeisterung hat nachgelassen. Biobilder hängen wir nicht mehr auf, sondern lassen sie gleich aus der Schultasche in die braune Tonne gleiten. Den Kindern ist das wurscht; sie haben die Bilder nur gemacht, weil sie glaubten, die Erwachsenen freuten sich darüber, was wiederum extra Computerzeit bedeuten könnte. Herbstbilder beruhen auf einem Missverständnis: Kinder langweilen sich, Eltern wissen nicht, wohin damit, alle wären glücklich, wenn die Kleinen was Zeitgemäßes im Kunstunterricht versuchten, Greg-Zeichnen zum Beispiel oder Graffiti-Skizzieren.

Was den Hippie wirklich vom Bürgerlichen unterscheidet, ist der Ordnungsbegriff. Ordnung ist ein Haltegriff für Menschen mit schwachen Nerven. Ein gepatchworkter Abendbrottisch ist für einen Spießer ein Albtraum. Für die Kinder leider auch. Immer wenn Hans den Tisch deckt, will er vier gleiche Teller, weil das seinem Gefühl von Gerechtigkeit und Team Spirit entspricht. »Das sind doch bürgerliche Konventionen «, sage ich dann und decke verschiedene Teller. Hans tippt sich an die Stirn, die Chefin lächelt milde.

Wir sind total stolz auf unsere total antibürgerliche Familie.

 

 

 

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