Hoffmanns Erzählungen und Vasco Da Gama

Enttäuschender Premieren-Reigen der Stiftung Oper Berlin: Weder Barrie Kosky mit Jacques Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ noch Vera Nemirova mit Giacomo Meyerbeers Grand Opéra „Vasco da Gama“ gelingen schlüssige Deutungen.

Ein Musiktheater-Spektakel zum Einheitswochenende sollte es werden, eine metropole Leistungsschau, so jedenfalls muss es der Stiftung Oper Berlin vorgeschwebt haben: drei Häuser, drei Premieren, Freitag, Samstag, Sonntag, 14 Stunden Wagner, Meyerbeer und Offenbach – eine Art musikkultureller Erlebnisparcours zwischen Checkpoint Charlie und  Brandenburger Tor. Und tatsächlich: Die Nachfrage war groß, aus dem In- und auch aus dem Ausland, ausverkaufte Häuser allüberall, man drängelte und tummelte sich in Foyers und Spielstätten, wohnte dem einen Stück oder dem anderen bei, vielleicht zweien oder auch allen dreien. Allein ein Fest der Musiktheaterkunst wurde es am Ende nicht. Kein Fest der Musiktheaterkunst, um genau zu sein.

Den Auftakt machte am vergangenen Freitag Barrie Kosky an der Komischen Oper mit Jacques Offenbachs „Les Contes d’Hoffmann“ – mit einem Auftakt, der oberflächen-optisch vereinnahmte, aber das dramaturgische Problem des Abends offenlegte: Hoffmann brabbelt und sabbelt auf abgeschrägter Bühne in einem hübsch ausgeleuchteten Meer geleerter Spirituosen-Flaschen: Ja, sicher doch, der Alkohol hat all seine phantastischen Träume von einem Leben für die Kunst oder die Liebe längst zunichte gemacht; was bleibt, sind keine ewigen Werke, sondern hochfliegende Träume, keine erfüllte Zuneigung, sondern winselnde Bewunderung für die flüchtig vorbeihuschende Sängerin Stella und die herrliche Don-Giovanni-Musik, die wie ein Echo vertaner Apoll- und Eros-Möglichkeiten Hoffmanns verlebte Existenz anruft.

Für ein paar Minuten geht die Idee prächtig auf. Die Fanfare, die bei Offenbach das Stück eröffnet, um von Hoffmanns antirationalem Trotz und romantischem Behauptungswillen zu künden, leitet bei Kosky nicht die Rahmenhandlung ein, sondern ist dem Wahnsinn seiner  Erzählungen gleichsam einverleibt: Die deutsche Weinstube und Weinseligkeit als Zufluchtsorte im Reiche Dschinnistan, in das der Dichter Hoffmann vor einer übergriffig gewordenen Vernunft geflüchtet ist…

Doch dann fängt sie an, die Malaise des Abends, denn Kosky macht aus der schwadenschwangeren Gelagenszene, was er irgendwann immer macht, immer und immer wieder, in jedem Stück, man kann es wirklich nicht mehr ertragen: Männer in Frauenkostümen betreten die Bühne, sie tanzen, hopsen, winken, wackeln, keiner weiß warum: Travestieshow statt Auerbachs Keller. Auch das von Dominik Kröninger höchst variantenreich gesungene Lied vom skurrillen Zwerg „Klein Zack“ vermag den allzu schnell verflogenen Zauber der Inszenierungsidee nicht mehr zurückzuholen: Ende der Vorstellungskraft.

Zumal Kosky, wie sich zeigt, für „Hoffmanns Erzählungen“ nichts übrig hat. Die existenziellen Fragen, die E.T.A. Hoffmann in „Klein Zaches“, im „Sandmann“ und im „Schlemihl“ verhandelt, die subtile Kritik an aufgeklärtem Absolutismus und verabsolutierter Aufklärung, die Verteidigung der Anschauung gegen die Gefallsucht wissenschaftlicher Genauigkeit (das Perspektiv), die Subversion gegen eine Geldgläubigkeit, die buchstäblich das Ich aufzehrt (Verlust des Schattens) – nichts davon wird in den drei Stunden illustriert, geschweige denn von der dämonischen Figur des Lindorf auf offener Bühne verhandelt. Statt dessen schleppt sich der Abend als grellgraue Kette meist revuehafter, gelegentlich effektvoller Regieeinfälle dahin – noch dazu vor der deprimierend eintönigen Kulisse eines nach vorn spitz zulaufenden Gevierts, das sich vorzugsweise zur Aufnahme und Entlassung des Chors so lange hebt und senkt, bis man auf den Gedanken verfällt, die Hydraulik solle der eigentliche Star des Abends sein.

Aber, aber, dem Himmel sei Dank, da ist noch Nicole Chevalier, die der Bühnenphysik  den Rang abläuft, ein Glücksfall für das Haus: eine lustschaupielernde Sängerin, wie es sie nicht viele gibt. Die berühmte Arie der Maschinen-Olympia, die Karikatur einer Koloratur für Roboter-Sopran, bringt Chevalier so grinsend, schnatternd, ratternd, schmachtend, schleckend, kurz: so fratzenhaft und unbedingt tonsicher zugleich über die Bühne, dass es ein komödiantisches Fest ist. Und natürlich, eine solche Rampen-Nummer ist bei Kosky in allerbesten Händen: Olympias Kopf, Hände, Füße grimassieren, fuchteln, tänzeln in einem Kasperltheater-Schrank, dessen Schubladen beständig auffliegen und zuknallen…

Nicole Chevalier ist neben Karolina Gumos als Hoffmanns Muse auch sängerisch der Höhepunkt der Produktion. Nach der Pause, wenn Offenbachs Musik an Gewicht gewinnt, gelingt ihr vor allem als mimihafter Antonia (und nicht so sehr als Giulietta-Turandot) ein berückendes Rollenporträt – auch wenn sie sich dabei allzu wörtlich von der Musik hinrichten lassen muss. Rätselhaft bleibt, warum Kosky den Hoffmann auf zwei Sänger (Dominik Kröninger/Bariton und Edgaras Montvidas/Tenor) und auf einen Schauspieler verteilt, der als verdoppelte Figur agiert, ohne ihr Mehrdimensionalität aufzuprägen: na klar  doch, das ist der „echte“ Hoffmann, der den Wahnsinn an sich vorüberziehen sieht – nur dieser Wahnsinn, wie gesagt, ist bei Kosky kein Wahnsinn, sondern Spektakel. Rätselhaft bleibt leider auch, wohin sich das Orchester der Komischen Oper bewegt: Stefan Blunier dirigierte einen hörbar engangierten, kaum aber je differenzierenden Klangkörper. Versöhnlich, immerhin, der Schluss: Das Bild des eingesargten Hoffmann auf leerer Bühne, aller Hoffnungen und Ängste ledig, ist von bleibender Suggestivkraft.

Etwas Großes hat sich die Deutsche Oper vorgenommen: Die künstlerische Rehabilitation und Heimholung von Giacomo Meyerbeer (1791 – 1864), dem Meister der französischen Grand Opéra, dessen Werk seit dem 19. Jahrhundert – auch in antisemitischer Absicht – zur Zweitklassigkeit verurteilt und gegen das von Richard Wagner ausgespielt wurde. Drei Spielzeiten lang wird Meyerbeer, seit 1842 Generalmusikdirektor der Berliner Oper, mit drei Werken geehrt, wobei das Haus an der Bismarckstraße das Feld gewissermaßen von hinten aufrollt, also mit Meyerbeers letztem Werk, Vasco da Gama, dessen Vollendung dem Komponisten versagt blieb. Die Folge: eine unglückliche Aufführungsgeschichte mit gestrichenen Passagen und einem irreführenden Titel („L’Africaine“), die erst 2013 ein Ende nahm, als die Oper in Chemnitz das Stück auf der Basis einer kritischen Neuausgabe auf die Bühne brachte.

Nun also Berlin, Grand Opéra in der Hauptstadt, mit viel Geld, langem Anlauf und Roberto Alagna in der Titelrolle – das kann nicht nur, das muss gelingen? Ach, wenn es so wäre. Roberto Alagna lässt sich, noch bevor der Vorhang sich hebt, wegen einer Erkältung entschuldigen – fünf Stunden später wird man wissen: Es ist das geringste Übel an diesem Abend. Denn Alagna weiß trefflich mit seinen Kräften umzugehen. Er räuspert sich zuweilen (sehr vernehmlich) den Hals frei, legt aber den gewohnten Schmelz in seine Stimme, wenn es nötig ist, strahlt mühelos und unforciert – fast bis zum Ende hin, als ihn ausgerechnet in der berühmten Arie vom wunderbaren Land die Kräfte verlassen. Freilich, Alagna hatte auch zuvor schon ein wenig geschummelt: In der Traumerzählung im zweiten Akt, in der Vasco sein Eroberer-Ich transzendiert und seine Stimme gewissermaßen zum Himmel erhebt, hat Meyerbeer die Tenor-Latte so hoch gelegt, dass Alagna es vorzog, sie baritonal zu unterqueren.

Das Regie-Konzept von Vera Nemirova? Keine Ahnung. Meyerbeers Vasco da Gama ist kein komplexer Charakter, ein Eroberer erstens der Welt und zweitens der Frauenherzen, in exakt dieser Reihenfolge; immerhin, als Derivat seiner (persönlichen) expansiven Interessen fällt auch noch ein wenig antiklerikaler Aufklärungseifer ab: „Ihr, die das Licht fürchtet“, sagt Vasco, als ihm das militärisch-katholische Exkekutivkomitee Portugals eine neue Expedition verwehrt, „sperrt es in den Kerker.“

Was aber fängt man mit einem solchen Siegfried der Weltmeere an? Man kann ihn postmodern karikieren (und damit Meyerbeer einen Tort antun). Man kann ihn als zwischen Ruhmsucht und Liebesverlangen zerrissenen Charakter auf die Bühne stellen (alter Hut). Oder man kann ihn als egomanen Ignoranten, als eine Art Parsifal-Siegfried inszenieren, der never ever Gefahr läuft, durch Mitleid wissend zu werden. Nemirova aber entscheidet sich schulterzuckend – für keine Lösung.

Und so ist drei Stunden lang ist nichts zu sehen von Grand Opéra. Stattdessen kleinstes Karo, schnipselweise. Ein paar Papierschiffchen ankern vor einer riesigen Halbmond-Tafel mit einer Europa-Afrika-Asien-Karte, eines dieser Schiffchen ist groß und bespielbar, zum Beispiel von Ines – eine der beiden Frauen, die aus purer Leidenschaft und Hingabe bereit sind, sich für Vasco aufzuopfern: „Du hast nie verstanden, dass man lieben, leiden und daran sterben kann.“

Drei, vier Mal wird sich diese Tafel später senken und heben, um Platz zu schaffen für einen Beratungssaal, ein Schiffsdeck und einen indischen Palast – unterschiedslos eingerahmt von sechs schlanken Segeln, die mal gehisst sind und mal nicht, von hinten dramatisch durchleuchtet oder in nachtblaue Farben getaucht. Man muss sich das einmal vorstellen: In einem Stück, in dem es um nichts anderes als Entgrenzung (erstens Vascos  Erobererungen, zweitens die Liebe der Frauen) geht, eröffnen sich fünf Stunden lang keine Bühnenräume!

Was alles hätte Vera Nemirova einem Stück abverlangen können, dessen Stoff von der Deutschen Oper selbst als „beängstigend aktuell“ gepriesen wird? Vasco, der von einer frühkolonialen Expedition zurückkehrt, mit Selica und Nelusco als seinen Sklaven – diese eine indische Königin, in ihren europäischen Herrn verliebt, er ein treuer Untertan, vernarrt in seine Herrin… Was allein hätte man nicht alles machen können aus der Figur des Don Pedro, der Vasco erst Ines raubt und ihm dann auch noch das Wichtigste in seinem Leben, seinen Ruhm (und Nachruhm!), zu entreißen droht! Vera Nemirova aber scheint weder an einer Infragestellung männlicher Eroberungsfantasien interessiert noch an einer ironischen Brechung globaler Migrationsgeschichten, die mit Seefahrern wie Vasco da Gama ihren breitenwirksamen Anfang nahmen.

Statt dessen: Zwei Akte Steh- und Rampentheater mit ein paar angespülten Flüchtlingen, die exakt so lange grundlos am Bühnenrand herumlungern, bis sie jeder Zuschauer aber auch bestimmt gesehen hat. Ein dritter Akt auf hoher See mit Zwangskonversion, einer Vergewaltigung aus religiöser Eiferei und mit Somalia-Piraten, die portugiesische Edelleute mit Maschinengewehren niedermähen (viele Buhs). Ein vierter Akt, der die Zuschauer in ein weiß-oranges Indien aus dem Tui-Katalog entführt, mit Kriegsgebrüll und Stöcketanz, man glaubt es nicht – und inklusive eines reich gemachten Blumenbettes für Vasco und Selica, das aussieht wie eine rechteckig geratene Riesenpizza…

Am besten also, man macht die Augen zu und genießt: Roberto Alagna, sicher, vor allem aber die sänger-schauspielerische Kraft von Bariton Markus Brück als zartfühlender, eifersüchtiger, untertäniger und gehässiger Nelusco, vielleicht der interessanteste, weil ambivalenteste Charakter des Stückes. Oder den eher sachlich als sehnlichst sich verströmenden Mezzo von Sophie Koch als Selica, die sich am Ende den giftigen Dämpfen des Manzanillobaums aussetzt, um im Drogen-Liebes-Entsagungs-Rausch die beglückende Erfahrung zu machen, dass Liebessehren und Todeswunsch eins sind. Auch Seth Carico als Don Pedro lässt, von mangelnder Bösartigkeit einmal abgesehen, keine Wünsche offen, während die nach unten hin fein abgerundete Stimme von Nino Machaidze (Ines) sich nicht ganz geschmiert in die Höhe zu schrauben versteht. Ob Enrique Mazzola am Pult die vielen Fäden der Partitur in den nächsten Wochen noch etwas straffen, verdichten, verdeutlichen kann? Wahrscheinlich: Nach einem zerdehnt-zerfaserten Auftakt gab es aus dem Graben vor allem nach Pause zwei viel Glückendes zu hören.

Die nächste Vorstellungen:

„Les Contes d’Hoffmann“: 7.10., 11.10., 14.10, 18.10, 25.10, 7.11, 27.11, 25.12.

„Vasco da Gama“: 7.10, 11.10., 15.10., 18.10., 24.10.

 

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