Musikfest Berlin #2 – Stockhausen, Ligeti, Debussy

Peter Eötvös triumphiert mit INORI, das DSO überzeugt mit Debussy – und die  Berliner Philharmoniker leisten diesmal nur Dienst nach Vorschrift 

So ziemlich alles richtig gemacht, möchte man den Veranstaltern des diesjährigen Musikfestes zurufen – auch wenn es zuweilen nicht richtig gut besucht war. Ob’s an der Dichte der Veranstaltungen lag? Wohl kaum. Eher daran, dass die meisten Liebhaber orchestraler Musik noch immer bei Gustav Mahler, Richard Strauss und Igor Stravinsky eine innere Widerstandsgrenze ziehen – und fast allem, was 1910 ff. mit neutönerischem Anspruch komponiert wurde, bevorzugt die kalte Schulter zeigen. Man hört sich die Stücke, selbst der modernen Klassiker – Boulez, Ligeti oder Xenakis – mal eine halbe Stunde an, das schon. Aber sich den Kompositionen öffnen, sich von ihnen gar berühren lassen, darauf verzichten die meisten lieber.

Wie gesagt: An der Programmgestaltung lag’s nicht, im Gegenteil: Die Organisatoren haben das Musikfest 2018 nicht nur um zwei Zentennien kreisen lassen – vor 100 Jahren starb Claude Debussy, vor 100 Jahren wurde Bernd Alois Zimmermann geboren. Sondern sie haben etwa auch einen ausgesprochen sinnfälligen Spiritualiätsbogen geschlagen vom Eröffnungskonzert des Musikfestes (Stravinskys „Sacre“ plus Boulez‘ „Rituel in memoriam Bruno Maderna“) über zwei tiefkatholische Abende (BA Zimmermanns „ekklesiastische Aktion“, Bruckners Neunte und Dvoraks Requiem) bis hin zum kultisch-zeremoniellen Höhepunkt und Abschlussabend am Dienstag: Karlheinz Stockhausens INORI. Es gibt nicht zahlrfeiche Möglichkeiten, sich diese überwältigend amplifizierte, klanggläser- und schellenkranzdominierte Stunde mystische Gebetstanzmusik live anzusehen und anzuhören, und doch blieben viele, viele Plätze leer in der Philharmonie – ein Rätsel.

Denn erstens hat dieses Stück nun auch schon immerhin 45 Jahre auf dem Buckel – und es ist zweitens, zumal in seinen Loops und Wiederholungen, in seinen dynamischen Zuspitungen und spiralförmigen Steigerungen, unmittelbar zugänglich: eine eigentümliche, rituelle, meditative, sogvolle Musik, in denen, wer will, Spuren von György Ligeti und Philipp Glass ausfindig machen kann, aber auch Elemente und Zitate von Ryuichi Sakamoto, den Tindersticks oder dem späten David Sylvian – wenn man nicht wüsste, dass der genialische Stockhausen nicht Zitatnehmer ist, sondern Zitatgeber war – und seiner Zeit, wie man sagt, „weit voraus“: Ihm, der die Welt spirituell-universal und geistig-kosmisch dachte, musste man nicht erzählen, dass der Mensch auch nach Nietzsches Diktum („Gott ist tot“) metaphysische (Grund-)Bedürfnisse hat – und sein Leben fortan erst recht in einen größeren Zusammenhang eingebettet wünscht.

Das Stück ist bei Peter Eötvös, der es gut kennt und oft aufgeführt hat, in allerbesten Händen – und das ganz buchstäblich, denn seine Bewegungen korrespondieren (und sollen korrespondieren) mit den Gebetsgesten der beiden Tänzermimen (Winnie Huang und Diego Vasquez), die der Komposition auf bewunderungswürdig konzentriert-synchronisierte Weise eine körperliche Dimension verleihen. Allein das Orchester der Lucerne Festival Academy verstolpert ein klein wenig den geheimnisvollen Anfang, in dem Stockhausen dem Stück gewissermaßen den rhythmischen (Im-)Puls vorgibt: den (Im)puls für das faszinierene Paradox eines eine Stunde lang stark tempowechselnden Regelmaßes. Aber dann folgt auch das Orchester der Disziplin des Dirigenten, um sich – noch so ein Paradox: – als fliessend-stockend aufgestaute Energie in ekstatischen Klangballungen entladen zu können. Sekundenlange Stille nach dem Ritual. Und verdienter, lang anhaltender Applaus.

Ähnlich zu begeistern wusste ein paar Tage zuvor auch Carolin Widmann mit dem Violinkonzert des anderen großen Rheinländers: Bernd Alois Zimmermann – ein Werk, das zwischen zwei Extremen changiert, zu großem Effekt choralförmige Passagen und recht weit geschwungene Kantilenen mit Zwölftonreihen und shostakovichartigen Grotesken mixt: Traum trifft auf Albtraum, Versöhung auf Verhöhnung, Liebe auf Zorn – und Carolin Widmann ist mit jeder Faser ihres Körpers, jeder Zelle ihres Hirnes Anwältin des Stückes – bis zu seinem kurios-furiosen Lateintanzende: Bravo! Doch retten kann Widmann den Abend nicht: Die Berliner Philharmoniker leisten Dienst nach Vorschrtift unter Francois-Xavier Roth, obwohl das Rest-Programm nicht nur reich, sondern auch theoretisch schön ausgetüftelt ist: Die drei luftig-leicht bewegten „Image“ von Debussy werden von György Ligetis mikropolyphonen Klassikern („Lontano“ und „Atmospheres“) zwischendurch kalt und ruhig gestellt – prima Idee. Das Problem in der Praxis: Die fünf Abschnitte gewannen nicht an Kontur und Schärfe, sondern sie neutralisierten und egalisierten sich – und weil die Philharmoniker selbst das natürlich als Erste spürten, war noch vor der abschließenden „Iberia“ die Luft raus.

Schließlich der Saisonauftakt des Deutschen Symphonie-Orchesters unter Robin Ticciati: Auch hier war an der programmatischen Gestaltung rein gar nichts auszusetzen; wohl aber an der Ausführung. Ticciati kombinierte die von Claudio Abbado (nicht immer ganz fugenlos) zusammengestellte „Parsifal“-Suite mit dem einstündigen Mysteriumsmusik „Le martyre de Saint Sebastien“ von Claude Debussy – aber klar, warum nicht: Debussy hat Wagner bewundert und geschmäht – und bei beiden Kompositionen handelt es sich, wenn man so will, um meditativ-esoterische Rührstücke und Seelenmassagen, die um Opfertod und Erlösung, um Schmerzbereitschaft und Ekstase, um Entsagung und religiöse Erfüllung kreisen. Das DSO wusste, unterstützt von einem klasse Solistenensemble (Erin Morley, Anna Stephany, Katharina Magiera und Sprecherin Dame Felicity Lott), das selten aufgeführte Martyrium des schönen Pfeildurchbohrten – halb Adonis-, halb Christusfigur – sehr überzeugend in Szene zu setzen: Der schwüle Fin-de-Siecle-Text von Gabriele d’Annunzio ist heute nur noch schwer auszuhalten, aber fraglos hat Debussy, vor allem im dritten bis fünften Teil Orchestermusik geschrieben, die in ihrer Zerbrechlichkeit und Filigranität zum Schönsten seines Schaffens gehört; Ticciati und seine Musiker zeigen  hier, dass sie glänzenda aufmerksame Partitur-Leser und Detailzeichner sind. Die Parsifal-Suite vor der Pause hingegen – schnell vergessen. Ticciati musiziert, erst langsam, dann brav, schließlich peinlich bemüht, bloß keinen Fehler zu machen – was soll’s: Der Mann ist erst 35 – und kann in ein paar Jahren erneut versuchen, die Zeit zum Raum hin zu öffnen.

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