Carmen an der Deutschen Oper

Ole Anders Tandberg gelingt nach der „Lady Macbeth von Mzensk“ ein zweiter Wurf an der Deutschen Oper. Berlin hat endlich wieder eine klasse „Carmen“

Die Deutsche Oper hat es schwer in diesen Monaten. Die Barenboim-Flimm-Staatsoper ist  unter feingesellschaftlichem Trommelwirbel zurück ins Stammhaus Unter den Linden gezogen und zieht dort viel Aufmerksamkeit auf sich – nicht zuletzt von promenierenden Prominenten, die die erhöhte Decke bewundern und das millionenteuer erkaufte Nachhall-Plus. Die Komische Oper auf der Rückseite des Berliner Prachtboulevards wiederum hat sich unter Intendant Barrie Kosky als kleines, hippes Pop-Art-Haus für den unbeschwert gelingenden Abend in Kritiker- und Besucherherzen geschlichen.

Daneben bleibt der Deutschen Oper vorläufig nur die Rolle des Aschenputtels – obwohl das Haus an der Bismarckstraße mit der Kammeroper „L’Invisible“ von Aribert Reimann die vielleicht beste Premiere in der ersten Spielhalbzeit 2017/18 aufzuweisen hatte. Zu allem Überfluss ereilte die Deutsche Oper dann an Heiligabend noch ein Wasserschaden, der Drehbühne und Beleuchtung nachhaltig außer Kraft setzte: Bis mindestens Mitte Februar können beispielsweise „Salome“, „Tosca“ und „Cosi fan tutte“ nur in „szenisch adaptieren Versionen“ aufgeführt werden.

Der Bühnenschaden hat auch die überfällige Neuproduktion der „Carmen“ belastet. Es wurde höchste Zeit, die verdient-verstaubte Inszenierung von Peter Beauvais aus dem Jahre 1979 ehrenhaft zu verabschieden – und es waren schwierige Wochen für das Regieteam um den Norweger Ole Anders Tandberg. Es hat sich gelohnt. Die von extra eingebauten Motoren angetriebene Drehbühne knirscht vernehmlich zur Musik und das Ensemble muss oft eingefangen werden von Lichttunnel-Spots aus dem Zuschauerraum, das schon.

Dennoch glückt der Deutschen Oper nicht nur das Meiste, sondern vor allem das Entscheidende: Tandberg und sein Ensemble um Titelheldin Clémentine Margaine denunzieren nicht die lange Aufführungstradition der südländisch-leidenschaftlich-unbehausten „Carmen“, sondern sie zitieren den Schmalz und Schmelz von Partitur und Libretto, mal warmherzig, mal ironisch – um mit soziologischer Kälte den sarkastisch-parodistischen Kern des Werks offenzulegen. Was wir zu sehen und hören bekommen, ist einerseits ein Bizet, der „böse raffiniert, fatalistisch“ komponiert (Nietzsche) und dessen „Carmen“ andererseits im Licht von Balzac-, Hugo- und Zola-Figuren erscheint, um jenseits des Spanischen, Zigenuerhaften, Schmugglerischen zum symbolischen Zeichen einer bedingungslos ich-bezogenen Sex- und Liebeslust zu werden, einer Freiheit, die nicht begrenzt werden will durch die Freiheit eines anderen – die um der Freiheit willen über Leichen geht.

Das Ergebnis ist über weite Strecken beeindruckend: Die Bilder und Klänge der Oper entstehen wie aus dem Moment heraus – und man erlebt „Carmen“ endlich mal nicht als Nummernrevue, als Addition rhythmisch rumpelnder Hits, sondern als veritables Stück Musik, als reifes Werk von Klasse: Was wäre von diesem 36-jährigen Bizet nicht alles noch zu erwarten gewesen! Woran das liegt? Nun: Tandbergs blutrot gewandete Carmen ist eine (nie restlos) desillusionierte Frau, deren Ungebundenheit gerade deshalb bedrohliche Züge annimmt, weil sie sich nichts aufs Erotische beschränkt: Ihre Liebe, ihr Verlangen, ihre Leidenschaft verwirbeln nicht wie noch bei Mozart die gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern sind ihnen längst unterworfen: Die Verführung dient Zwecken, sie ist durchökonomisiert und auf ihren persönlichen Gebrauchswert hin berechnet.

Eine Frau, die sich nimmt, was sie will – das mag viele Herren der Schöpfung auch im 21. Jahrhundert (und im Saal) noch immer irritieren. Wirklich schockierend ist indes, dass Tandbergs Männerwelt zur Ambivalenz von Carmens Frei-Zügigkeit gar nicht mehr in der Lage ist – dass sich ihre „Eroberungen“ auf Machtgesten, Gewaltakte und anonymisierte Triebabfuhr beschränken, die Tandberg uns in Form einer Soldateska vor Augen führt, die der braven Micaëla mit stramm gereckten Gewehren zu Leibe rücken und jede billige (Kauf-)Gelegenheit nutzt, um sich lendenkräftig zu verausgaben – #metoo lässt grüßen.

Clémentine Margaine umspielt diese Carmen famos, mit fabelhaft dunkler Stimme und deutenden Akzenten: Hier ist nichts auf den schnellen Knalleffekt hin getrimmt, sondern alles auf einen Ausdruck, der durch Komplexität und Rollendistanz an Tiefe gewinnt. Und weil Tandberg Carmen nicht zur männerfantasiehaften Verkörperung des Venusprinzips  herunter würdigt, muss auch Heidi Stober als Micaëla nicht die unbefleckte Jungfrau mimen: Sie glänzt mit der Sehnsucht und Verzweiflung, die sie der Reinheit ihres sorgfältig vibrierenden Soprans beimischen darf. Schließlich Charles Castronovo als Don José: ein ganz ausgezeichnetes Rollendebüt. Castronovo bezeugt mit strahlendem Tenor Josés sehrende Liebe – und mit kalter, metallischer Festigkeit seine Eifersucht, seinen Besitzanspruch. Markus Brück, der vierte im Hauptrollen-Bunde, liefert eine (irritierend unheroische, auch sängerisch etwas hohle) Escamillo-Karikatur.

Im Graben spielen sie oft glänzend auf: Ivan Repušić sprintet die Gassenhauer-Ouvertüre in Grund und Boden – und hält das Orchester hernach an, die Musik, ganz im Sinne Nietzsches, unverschwitzt aufzuführen, sozusagen sich selbst als Durchhörbare zu erschließen. Wobei die emblematische Direktheit der Musik (ein Franzose komponiert Spanien so spanisch wie kein Spanier…) sich streckenweise, an diesem Abend vor allem Dank der Holzbläser, aufs Schönste an der inszenatorischen und bühnenbildnerischen Verfremdung bricht, um in einem frischem Klanggewand zu erscheinen.

Natürlich gelingt nicht alles: Tandberg überfrachtet zuweilen die wirkungsvoll von einer runden Steiltribüne dominierte Inszenierung. Fleischeslust, Kastration, Operationen am liebestollen Herzen und Leidenschaften, die einem buchstäblich an die Nieren gehen – das alles wird wirkmächtig angedeutet: Der Vorhang zeigt eine gehäuteten Tierkopf mit seinen Sehnen, Muskeln, Knorpeln, Adern… Ein toter Stier kreist mahnmalhaft über der Szenerie, bevor er zum (Horn-)Ochsen entmannt wird… Auch die Aktualisierung des Stoffes – der Chor hat einen Auftritt als „Flüchtlingsstrom“, die Schmuggler sind Organhändler – ist meist umsichtig, einleuchtend, komisch – aber manchmal, wenn sich Carmen und ihre beiden Freundinnen Mercédès und Frasquita (überzeugend: Jana Kurucovà, Nicole Haslett) mit Nieren bewerfen, eben auch lächerlich. Und warum der (leider nur mäßig inspirierte) Chor zwischendurch geisterhaft in Bettlaken gehüllt wird, Statistinnen in Witwentracht über die Bühne eilen und Kinder immer mal wieder Lampion-Stimmung verbreiten müssen – das erschließe sich wer will. Macht aber nichts. Berlin hat wieder eine moderne, faszinierende „Carmen“. Und das ist gut so.

Die nächsten Vorstellungen: 27. Januar; 4., 10. Februar; 30. Mai; 1., 7., 9., 16. Juni

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