Musikfest: Berg meets Schubert? Fauré trifft Pintscher?

Zwei rätselhafte Programme beim Musikfest, zwei Abende des Befragens: Matthias Pintscher gibt sein Debut bei den Berliner Philharmonikern mit Fauré, Schönberg, Debussy – und Pintscher. Christoph von Dohnányi dirigiert das Londoner Philharmonia Orchestra mit Ives, Berg und Schubert. 

Selten, fast nie fällt sein Name, wenn sich die weisen Connoisseure auf den Fluren der Philharmonie die Namen großer, alter Dirigenten und ihrer noch größeren Aufnahmen zuraunen: Christoph von Dohnányi hat nicht das Genie von Daniel Barenboim, nicht die unverwechselbare Klangvision eines Pierre Boulez, nicht die Katalogpräsenz eines Bernard Haitink. Was er aber fast immer hat, ist die Hochachtung der Musiker, die er dirigiert. Sie schätzen seine Akkuratesse, seine Ernsthaftigkeit und Sachkenntnis, vor allem in London, beim Philharmonia Orchestra, dessen Chef Dohnányi lange war und dessen Ehrendirigent er seit 2008 ist.

Vor einer Woche ist Christoph von Dohnányi 86 geworden; jetzt gastierte er mit seinen Londonern beim Musikfest Berlin – mit einem merkwürdig anmutenden Programm: Alban Bergs Violinkonzert – ein Klassiker der Literatur des 20. Jahrhunderts – und Schuberts große C-Dur-Symphonie. Noch unverständlicher der Auftakt: Charles Ives‘ „The Unanswered Question“, nicht gepaart mit „Central Park in the Dark“ zu den zwei Kontemplationen, die der amerikanische Komponist 1908 im Sinn gehabt hatte. Natürlich, der Fünfminüter für eine Solo-Trompete, der über langsamen, leisen Streichern die eine  große Frage stellt (die von zunehmend unwirsch-dissonanten Flöten – nicht – beantwortet wird), stellt einen ausgesprochen hübschen Auftakt für jeden Abend dar: drei im Raum verteilte Instrumentengruppen, Wohlklang, Spiritualität, Transzendenzgefühle… aber was hat diese einfache, reduzierte Tonsprache mit Alban Bergs Komplexitätskonzert zu schaffen? Gewiss, es ist dem „Andenken eines Engels“ gewidmet – nunja.

Aber dann lässt Carolin Widmann ihre Violine wundervoll leer, ausgedörrt erstarren in der eröffnenden Sequenz – eine unbeantwortete Frage, fürwahr, wie das ganze Leben, wenn man so will, das Berg sodann in zwölftönig stilisierten Volksweisen und Lamentationen an uns vorbeiziehen lässt: Ist es eine Komödie? Ist es eine Tragödie? Und Widmann behält den Fragestil bei, das ganze Stück über, ja: ihr ganzes Spiel ist eine einzige Befragung:  Widmann sucht keine Antworten, sondern Argumente, setzt keine Ausruzfezeichen, sondern die Partitur in Parenthese: Wieviel romantische Süße (Tonalität) ist bitteschön erlaubt im 20. Jahrhundert? Für wie viel wärmendes Gottgefühl ist noch Platz in der mystisch „entzauberten Welt“? Dohnányi meint Antworten auf diese Fragen parat zu haben – und polstert Widmanns Spiel üppiger aus, als es dieser vermutlich recht ist. Wirklich zusammen finden beide, so sehr sich mühen, an diesem Abend nicht.

Großartig nach der Pause: Die C-Dur-Sinfonie von Franz Schubert mit ihren prägnanten Rhythmen und Motiven, die wieder und wieder kehren, die Horn- und Posaunenrufe, der Aus-einem-Guss-Drive, der die ganze Sinfonie durchpulst, auch das schreitende Andante, schlließlich das hymnisch-himmelnde Finale… Dohnányi spielt einen ziemlich spektakulären No-Frills-Schubert: alles ist mit „englischer“ Präzison und Schärfe an den richtigen Platz gestellt, klingt herrlich kompakt, präzise, altmodisch und frisch zugleich – wie eine höchst kunstsachverständig restaurierte Preziose.

Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass Matthias Pintscher (44) sich offenbar einem ganz ähnlichen Musizierstil verpflichtet weiß. Pintschers Name macht in der Neue-Musik-Szene seit Jahren als sich setts einlösendes Großversprechen die Runde: Pintscher leitet das von Pierre Boulez gegründete Ensemble Intercontemporain, unterrichtet an der legendären Juilliard School, und seine Kompositionen erklingen in schöner Regelmäßigkeit weit über ihre Uraufführung hinaus in den berühmtesten Konzertsälen der Welt. Es wäre daher leicht untertrieben zu sagen, sein Debut bei der Berliner Philharmonikern sei mit Spannung erwartet worden.

Pintscher hat viermal zwanzig Minuten Musik im Gepäck, die auf den ersten Blick nicht recht zusammen passen wollen – und doch: Am Ende des Abends wird er die Teile zu einem Ganzen gefügt haben, wie schön. Gabriel Faurés dezente Bühnenmusik zu Maurice Maeterlincks Drama Pelléas et Mélisande (1898) – das später auch Debussy, Schönberg und Sibelius inspirieren sollte – zum Auftakt klingt ganz nach sublimiertem, auch etwas parfümiertem Salon, die Oboe hat ihren Auftritt, die Flöte, die Harfe – und selbst die Tragik des Trauermarsches am Ende hat etwas Duftendes, Luftiges, Flüchtiges: Alles ist reizend, raffiniert – und restlos undeklamatorisch.

In seiner Zweiten Kammersymphonie (1906/39) sehnt sich Arnold Schönberg hörbar zurück „zu dem älteren Stil“, man meint ein wenig Brahms durchzuhören, im zweiten Teil gar ein Spur Puccini, aber das ist eben noch nicht alles: Ganz offenbar steht Schönberg hier, gleichsam aus der Zeit gefallen, an der Schwelle von Spätromantik und Symbolismus zum Impressionismus: Ein Ideal gibt es nicht mehr, und man kann es auch nicht in eine erkennbare Form fassen, aber man kann versuchen, seinen Gehalt zu umkreisen, es zu betrachten, von allen Seiten: das „gewisse tonale Ennui“ zum Beispiel, das Glenn Gould hier im ersten Teil herausgehört hat.

Claude Debussys La Mer dann, zum Abschluss des Konzerts: Sonnenaufgang, Licht und Gischt, Wellen, Wogen, Hokusai… – die Philharmoniker spielen die Ikone des Impressionismus mit viel Fluss und kontrollierter Lust, und sie folgen dabei, wie es scheint, den Intentionen ihres Dirigenten, der erfolgreich bemüht ist, die überwältigenden Valeurs der Partitur (gestopftes Blech, mandolinenartig gezupfte Violinen etc.), die analytische Klangsinnlichkeit des Werkes – und auch die Nähe Debussys zu seinem eigenen, zu Pintschers Werk, zu unterstreichen.

Diese Werk von Matthias Pintscher, „mar’eh“ genannt, ein Konzert für Violine und Orchester, das wie Debussys La Mer ganz aus der Stille, aus dem Nichts erwächst, ist ein Musterbeispiel für die transparente Sinnlichkeit, die Pintscher zu komponieren versteht: Über die sehr weitgespannten, in höchsten Sphären schwebenden Flageolett-Bögen der Violine, über flatternden Flötengespinsten und Schleifgeräuschen der Schlagwerker blitzt Pintscher Klangscherben in den Saal, dass es nur so flimmert und schimmert, glitzert und funkelt – ein wundervolles Hört-Hin-Konzert, leicht verständlich und avanciert zugleich: Henze meets Lachenmann on a very bright day. Und die Berliner? Sind auch diesmal mit großem Interesse dabei. Echte Zuneigung zu Matthias Pintscher aber scheint’s vorläufig noch nicht zu sein.

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