Festtage: Boulez und Schubert mit den Wiener Philharmonikern

Die Konzerte während der Festtage in Berlin stehen ganz im Zeichen des Komponisten, Dirigenten und Musiktheoretikers Pierre Boulez, der vorgestern seinen 90. Geburtstag feierte. Zum Auftakt der Werkschau dirigierte Boulez‘ Künstlerfreund Daniel Barenboim gestern in der Philharmonie die Wiener Philharmoniker. Und so beeindruckend komplex, nervös und licht die beiden Werke von Pierre Boulez auch waren; zu einem grandiosen Ereignis wurde der Abend nach der Pause mit Schuberts großer C-Dur-Sinfonie.

Aber der Reihe nach. Zunächst gedachten Daniel Barenboim und die Wiener Streicher den Toten und Angehörigen des Flugzeugunglücks in Südfrankreich mit Bachs „Air“, das ja tatsächlich geeigneter ist als jede Schweigeminute, Gedanken des Mitgefühls zu entwickeln. Danach ging es los mit einem deutlich zweigeteilten, rund zehnminütigen Werk von Boulez für Streichorchester („Livre pour Cords“), das sich ein wenig anhörte, als würden sich Claude Debussy und Toru Takemitsu an einem nervösen Großstadtplatz unterhalten. Boulez lässt hier vor allem die hohen Streicher aufspielen, hält alles in der Schwebe, spielt mit Dynamiken und Crescendi, die wie in einem Vakuum verpuffen – und Daniel Barenboim, sichtlich geschult am doppelarmigen Dirigierstil von Pierre Boulez, zaubert trockene, filigrane, feine Gespinste in den Saal.

Und dabei bleibt es auch beim nächsten Stück, einem Fünf-Minüter für Solo-Flöte und Kammerensemble („Originel“): Flirrende, gurgelnd gehaltene Töne wechseln sich mit sauberen, klaren Linien ab – eine kleine Studie für Querflöte und Klangkunst und eine Hör-Lehrstunde zugleich, zumal das Stück anschließend wiederholt, das Ensemble dabei erweitert und elektronisch unterstützt wird. Mit dem Ergebnis, das das Werk an Durchsichtigkeit nicht verliert, an Räumlichkeit aber enorm gewinnt: Plötzlich ist der ganze Raum voll Seide.

Nach der Pause dann: Schuberts große C-Dur-Sinfonie, „ein dicker Roman in vier Bänden“, wie Robert Schumann einmal sehr zutreffend gesagt hat. Entsprechend andächtig schlagen Barenboim und die Wiener Philharmoniker den Wälzer auf und lassen es zunächst recht gemächlich angehen: Die lange Einleitung mit dem signifikanten Horn-Thema (leichte Kiekser), seine Übernahme in den Holzbläsern, dann der fließende Übergang in die Exposition, die leicht hörbar gemachte Trennung vom Nebenthema, die Durchsichtigkeit des formalen Aufbaus, die geschichtete Rhythmik, zuletzt die gewaltigen Entladungen – Barenboim lässt von Beginn an keinen Zweifel daran aufkommen, dass er Schuberts Kopfsatz im Lichte von Anton Bruckner sieht.

Und auch das Andante, dieser fröhlich gebrochene Trauermarsch mit den gewagten Harmonien mit dem brutalen fff-Höhepunkt, der erschütternden Generalpause – Barenboim kostet das alles aus und es ist eine einzige Freunde, ihm dabei zuzusehen: ein musikalisch Höchstbegabter fürwahr, und an diesem Abend, der auch ein visuelles Ereignis ist, ganz besonders. Barenboim dirigiert auswendig, lässt den Stock von rechts nach links wandern, lehnt sich zuweilen zurück und überlässt den Wienern das Kommando, packt dann wieder zu und fordert, hebt Stimmen hier hervor und meißelt Spitzen dort heraus – und die Wiener, dieses überragende Ensemble der beamtenhaften Akkuratesse, sie folgen dem Maestro mit unbewegter Begeisterung und leidenschaftsloser Hitze.

In Scherzo und im Finale, wo es auch mal mahlerhaft ländlert und Höhepunkt auf Höhepunkt geschichtet wird, ziehen Barenboim und die Wiener das Tempo an – und sparen sich, man glaubt es zum Ende hin kaum, immer noch ein paar Prozent auf, um alles auf die Spitze zu treiben. Allen voran famos homogene Streicher, die mit unbewegten Minen so springlebendig federn und sich so glutvoll verströmen, wie Barenboim es ihnen abwechselnd durchgehen lässt und abverlangt – eine dirigentischer Geniestreich und ein Orchester, dass sich allen Ernstes (sic!) in einen kleinen Vollrausch spielt. Nach dem mehrfach bekräftigten Schlussakkord, so scheint es, sind die Wiener beinahe von sich selbst überrascht: Sie schauen sich ein wenig ungläubig an, lachen gelöst, beglückwünschen sich und applaudieren dem Held des Abends: Daniel Barenboim, Pultmagier und musikalischer Drogenhändler. Großer Jubel. Ovationen im Stehen.

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