Medio tutissimus ibis – Haitinks Beethoven mit den Berliner Philharmonikern

Als Phaeton seinen Vater Helios bittet, für einen Tag den Sonnenwagen über den Himmel lenken zu dürfen, zweifelt der zunächst an den Kräften des Jünglings, lässt sich aber dann erweichen und gibt Phaeton schließlich einen guten Rat mit auf den Weg: Medio tutissimus ibis – In der Mitte wirst Du am sichersten gehen! Stellt man sich nun Bernard Haitink, der vergangene Woche in Berlin mit Beethovens Sechster Sinfonie (1808) und dem Violinkonzert (1806) seinen 86. Geburtstag feierte, als Sonnengott Helios vor und die Berliner Philharmoniker als folgsamen Phaeton, darf man von einer restlos geglückten Vater-Sohn-Beziehung sprechen. Eine in der Philharmonie zuletzt nicht mehr gewohnheitsmäßig anzutreffende Klangbalance und Ausgewogenheit war zu bestaunen, ein angenehm zurück genommener Wille zur dramatischen Akzentuierung: Medio tutissimus ibis!

Tatsächlich war der Auftritt von Bernard Haitink an diesem (Donnerstag) Abend eine Art doppelter Gegenentwurf: einerseits zum Partituren-Energetiker Sir Simon Rattle, dem derzeitigen Chef der Berliner Philharmoniker (bis 2018), andererseits zur Stimmungs-Kanone Christian Thielemann, Rattles möglichen Nachfolger (in zwei Monaten wird er bestimmt). Mehr noch: Haitinks Gastspiel schärfte das Bewusstsein der Hörer für das, was durch den unbedingten Ausdruckswillen von Dirigenten zuweilen unhörbar wird: die reine, ungeschminkte, nicht aufgedonnerte Anschaulichkeit eines gut 200 Jahre alten Musikstückes.

Haitinks Beethoven steht nicht unter Dauerstrom. Das Bonner Genie tritt uns nicht als visionärer Revolutionär und auch nicht als Komponist der hymnischen Ergriffenheit entgegen. Die Tempi sind mäßig, niemals zäh. Die dynamischen Zügel werden immer wieder angezogen, aber Sporen gibt’s nicht. Das Zusammenspiel ist immer zupackend, nie schneidend scharf. Die Transparenz der Stimmen ist selbstverständlich ausgehorcht, aber nicht gläsern, verdünnt. Die Holzbläser dürfen leuchten, aber nicht blenden. Nichts wird übertrieben gestaut, dramatisiert, aufgeladen – alles ist geordnet, abgestimmt, darf sich der Reihe nach entfalten. Nach all den historisch informierten, textkritisch analysierten, frei flottierenden, im Geist der Entstehungszeit angespitzten Beethoven-Interpretationen ist eine Begegnung mit Haitink eine – wie soll man sagen – schöne Erinnerung an die old school der Musik, im besten Sinne des Wortes.

Natürlich, die Stücke selbst, das Violinkonzert und die Pastorale, der rondo-tänzelnde und entspannt-tonmalerische Romantik-Beethoven, kommen dem Musikideal des Maestro entgegen. Es ist ein Beethoven ganz aus dem Geiste des reifen Goethe, den er uns da präsentiert, nicht aus dem Sturm-und-Drang-Geiste Schillers. Darin sind sich Haitink und die Solistin des Abends, Isabelle Faust, wundervoll einig. Und doch gibt es – leider – ein unüberbrückbares Gefälle zwischen dem Spiel von Faust und den Berliner Streichern. Während Faust – selbst im abschließenden Rondo – einen fast kargen, zartbitteren, an der Tonsprache des 20. Jahrhunderts geschulten Klassik-Blick auf Beethoven wirft, antworten die Berliner mit einem deutlichen Überschuss an Wärme, Sattheit und Vibrato-Schmelz. Nicht die Holzbläser wohlgemerkt, die auf Fausts grandios aufregende Un-Schönheit kammermusikalisch aufgeweckt reagieren. Und auch nicht die Pauke, die die Violine – in der eher selten gehörten Kadenz Beethovens aus dessen Bearbeitung des Konzerts für Klavier – zu einem zauberhaften Duett herausfordert.

Die Zugabe – was für eine grandiose Antwort von Isabelle Faust auf das ärgerlich verhustete Konzert! Zwei Minuten abgedämpfter György Kurtag: Nicht mehr als eine schulterzuckende Konzession an die ärgerliche Extra-Häppchen-Unkultur nach einem Konzertbrocken – und doch eine kleine Delikatesse zugleich.

Nach der Pause dann die „Pastorale“. Die Ankunft auf dem Lande und die Szene am Bach vollziehen sich recht gemächlich, ohne Dampfkraft und Zugluft sozusagen, mit herrlich federnden Flöten und Fagotten, als prototypisches Mahler-Ländler-Natur-Idyll; das lustige Zusammensein, mit dem stotterndem Bruckner-Blech, der kecken Oboe, der frechen Klarinette und dem ironischen Fagott ist so unbeschwert wie ein Dorffest, das Gewitter fegt nicht lebensbedrohlich-gefährlich, sondern wie ein ärgerlicher Sommer-Platzregen durch die Philharmonie – bevor sich das Volk zum dankbaren Gesang erneut versammelt und – hier! schunkelt! Beethoven! – den herrlichen Tag ausklingen lässt. Ja, das ist romantische Tonmalerei, ein Beethoven im Modus der Entspannung, eine Welt im ruhigen Takt des Kirchenjahres… – aber so kann man Beethoven doch heute nicht mehr spielen? Man kann. Aber welche Vorstellung hat Haitink von Beethoven? Blöde Frage, Es gibt nicht einen Weg zu Beethoven. Nur viele, denen eines gemeinsam ist: Sie zweigen alle von Haitinks Weg zu Beethoven ab: Medio tutissimis ibis. 

 

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*